Sie wandte ihren Blick nach links, auf der Suche nach der Straße, auf der sie gekommen war, doch ein hoher Abhang blockierte ihre Sicht. Das Haus schien tatsächlich nur vom anderen Hang aus zu sehen zu sein – mindestens einen Kilometer entfernt, wahrscheinlich mehr.
Nur sehr zögerlich machte sie einige Schritte vorwärts, bis sie das schmiedeeiserne Geländer erreichte, das alles war, was sie vom sicheren Tod trennte. Ein Windstoß wirbelte durch ihr Haar und raubte ihr für einen Moment den Atem. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bergen verschwunden und blendete sie nicht mehr. Die Aussicht war faszinierend; halblinks, in der Fortsetzung des Taleinschnitts, war sogar das Meer zu erkennen. Rechts von ihr erstreckte sich die Wand des hier einstöckigen Hauses sieben oder acht Meter weit. Es saß unmittelbar auf sandfarbenem Fels auf. Dahinter war eine Terrasse zu erkennen, und hinter dieser die zuckerhutförmige Felskuppe, die sie bereits beim Aussteigen bemerkt hatte. Aus ihrem Gipfel ragte eine Eisenstange wie ein Fahnenmast ohne Fahne oder ein Gipfelkreuz ohne Querbalken.
Eine Weile stand Sandra nur da, die Finger um das Geländer gekrallt, versunken in die Aussicht, und fragte sich, ob dies alles Realität sei oder nur ein Traum. Sie war dankbar dafür, nicht sprechen zu dürfen, denn sie hätte niemals in Worten ausdrücken können, was sie fühlte, und leeres Geschwätz hätte den Zauber zerrissen.
Sie hatte ein Zuhause gefunden – und einen Herrn, einen wirklichen und wahrhaftigen Meister! Jemanden, für den sie alles tun würde, bereitwillig und ohne zu hinterfragen, ohne zu zögern.
Einen Sinn für ihr Leben.
Eine Stunde später saß sie ihrem Herrn immer noch nackt, aber frisch geduscht, im Esszimmer gegenüber. Ein langer, hölzerner Tisch und Stühle mit hohen Lehnen; geschmackvoll, aber unbequem, doch das störte Sandra nicht. Zum ersten und zum letzten Mal würde sie mit ihrem Herrn am Tisch essen – mit ihm speisen . Er hatte ihr für den Abend Sprecherlaubnis erteilt, und sie war begierig darauf, mehr über ihn zu erfahren.
Das Esszimmer war genauso groß wie das Büro und lag diesem gegenüber. Es verfügte ebenfalls über einen kleinen Balkon, der nach Nordosten ausgerichtet war. Der Ausblick ähnelte dem schon bekannten: keine Sicht auf die Straße, lotrechter Abgrund. Mittlerweile war es fast dunkel; winzige Lichter sprenkelten die fernen Hänge, und manchmal schwebten die Scheinwerfer oder Rücklichter eines Autos von einem zum anderen wie ein Glühwürmchen auf Partnersuche.
Zwei Gedecke waren aufgelegt; bei jedem stand Wasser und Rotwein bereit. Als Elena die Vorspeise aufgetragen hatte – Grüner Salat mit Gouda und Ziegenkäse – und Sandra zuzugreifen zögerte, fragte Martin: »Was ist? Hast du etwa keinen Hunger? Oder magst du keinen Käsesalat?«
»Doch, es ist nur …« Sie senkte den Blick und leckte sich demonstrativ die Lippen. »Ich möchte den Geschmack meines Herrn noch nicht verlieren …«
»Iss!«, befahl ihr Herr, und Sandra aß.
Elena räumte die leeren Schüsseln ab und brachte kurz darauf die Hauptspeise. Sie wechselte einige Worte mit Martin, wobei Sandra mitbekam, dass sie ihn mit »Ramón« anredete.
Auf ihren fragenden Blick antwortete ihr Herr: »Ramón ist mein erster Vorname, Martin mein zweiter. Für dich macht das keinen Unterschied, denn du wirst mich ohnehin nur ›Herr‹ nennen. Mein Familienname ist übrigens Cebo.«
Sandra erinnerte sich an die Aufschrift des Briefkastens: »Los Cebos«. Sie fand es unpassend für eine Angestellte, den Hausherrn mit dem Vornamen anzureden, doch sie hatte gelesen, dass es in Spanien weniger förmlich zugehe als in Deutschland.
Das Hauptgericht bestand aus Lammkotelett mit Knoblauch, Kartoffeln, Gemüse und Pfefferminzsoße. Sandra fragte sich, ob ihr Herr, falls sie Vegetarierin gewesen wäre, darauf Rücksicht genommen hätte, und hoffte, dass dies nicht der Fall wäre. Eine Sklavin durfte schließlich keinen eigenen Willen besitzen und musste das essen – nein: fressen –, was ihr vorgesetzt wurde. Und sie hatte dankbar dafür zu sein.
Doch an diesem Abend speiste sie. Der trockene Rotwein, der aus einer Karaffe eingeschenkt wurde, passte hervorragend zum Lamm, doch Sandra wusste, dass sie nicht zu viel davon trinken durfte. Zum einen hätte ihr Herr das als Unbotmäßigkeit auffassen können, und zum anderen war sie keinen Alkohol gewohnt. Ein Glas bereits stieg ihr zu Kopf, und sie wurde – um es vulgär, aber treffend auszudrücken – geil.
»Darf ich fragen, Herr«, sagte sie nach einer längeren Zeit des Schweigens, »welchen Beruf Ihr habt?«
Sie liebte diese altertümliche Anrede; es war die respektvollste, die sie sich vorstellen konnte, und als solche gerade gut genug.
Martin – sie würde ihn in Gedanken stets Martin nennen, niemals Ramón – schmunzelte. »Ich bin Architekt.«
»Oh. Dann habt Ihr sicher auch dieses Haus erbaut?«
Ihr Herr trank einen Schluck Wein, dann wiegte er den Kopf. »Halb und halb. Der obere Teil ist alt – natürlich renoviert, aber in seiner Grundsubstanz über achtzig Jahre alt. Nur die untere Etage – also diese hier – ist neu; drei Jahre, um genau zu sein. Und natürlich die Terrasse und … ein paar andere Dinge.«
Sandra nickte langsam. »Und wo werde ich … wohnen?«
Eine Sklavin verfügte schließlich über kein eigenes Zimmer, mit einem bequemen Bett, Stühlen, Fernsehapparat und vielleicht gar einem angeschlossenen Bad. Eine Sklavin war nicht mehr als ein Tier, ein oftmals ungeliebtes obendrein, zumindest in Sandras Verständnis. Eine Sklavin hauste in einem Käfig, einer Stallbox oder einer Art Hundehütte.
Martins Kiefer mahlten, sein Blick flackerte kurz; offensichtlich versuchte er zu ergründen, wie die Frage gemeint war. »Für dich ist gesorgt«, antwortete er schließlich.
Er wischte sich mit einer weißen Stoffserviette den Mund ab und erhob sich abrupt. Damit war das Essen beendet; Sandra stand ebenfalls auf, obwohl weder ihr Teller noch ihr Weinglas geleert waren. Elena, die die Fähigkeit zu haben schien, sich unsichtbar zu machen, gleichsam mit dem Mobiliar zu verschmelzen, begann mit dem Abräumen.
»Ich kann den Abwasch erledigen«, erbot sich Sandra. »Wenn – wenn ich etwas zerbreche, könnt Ihr mich streng bestrafen, Herr!«
Martin lachte humorlos. »Wenn du mal etwas zerbrichst, wird Elena dich streng bestrafen! Danach wirst du mit dem Geschirr umgehen, als bestünde es aus Eierschalen.«
Sie standen nun auf dem Flur, zwischen dem Ess- und dem Arbeitszimmer. Martin lehnte sich an den Rahmen der geöffneten Bürotür.
»Ich habe noch zu arbeiten. Elena wird dich für die Nacht vorbereiten. Ich muss oft beruflich für einige Tage weg; in diesen Fällen wird sie sich ebenfalls um dich kümmern. Du hast ihr in allem genauso zu gehorchen wie mir selbst, ist das klar?«
»Klar, Herr, aber … was ist, wenn ich sie nicht verstehe? Sie spricht stets so schnell.«
»Wenn du sie nicht verstehst, ist das dein Problem. Ich gebe dir morgen ein paar Bücher; du kannst Spanisch lernen. Wenn du nicht sofort und widerspruchslos gehorchst, egal aus welchem Grund, wirst du bestraft.«
»Ja, Herr.« Ich freue mich auf die erste Strafe, Herr!
Martin wandte sich ab, doch Sandra hob die Hand.
»Was noch?«
»Darf ich noch einmal …«
… den Topf benutzen?
»… pissen, Herr?«
»Nein. Und deine Sprecherlaubnis ist hiermit erloschen.«
Er ging ins Büro und schloss die Tür hinter sich. Als Sandra sich umsah, stand Elena neben ihr und wies mit einem Schlüssel in Richtung der Treppe, die in den alten Teil des Hauses hinaufführte. Sandra folgte ihr bis zu dem Absatz, der die Mitte der Treppe markierte. Als sie wenige Stunden zuvor heruntergegangen war, hatte sie wegen der Augenbinde nichts sehen können. Nun stellte sie fest, dass von diesem Absatz links und rechts jeweils eine Tür abführte. Es waren eiserne Türen, wie sie oft für Heizungskeller verwendet wurden. Elena schloss die von unten gesehen linke Tür auf und betätigte einen außen angebrachten Lichtschalter.
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