»Klasse!«, freute ich mich und hörte durchs Fenster, wie Milošas seine Befehle erteilte: »Wir kesseln ihn ein! Serjoša, Kęstas! Vorwärts!«
»Jede Nacht gibt es eine Schießerei«, seufzte der Wirt, »manchmal sogar mit schallgedämpften Waffen. Aber ich höre alles«, sagte er und blinzelte verschmitzt.
»Ja«, stimmte ich zu. »Auch ohne Geräusch findet eine Kugel ihren Weg in das Herz des Menschen …«
»Reichlich banal«, maulte der Maître, »aber immerhin doppeldeutig. Ich schreibe es auf. Übrigens habe ich hier eine Nachricht für Sie.«
Und er gab mir deinen Zettel, Nabė. Er war so lieblos, dass ich regelrecht aufseufzte: zwei Sätze und fünf Interpunktionsfehler …
»Wir kriegen ihn, und zwar lebendig!« Milošas’ Stimme klang immer noch triumphierend. »Lebendig!«
»Und der Herr Rikardo kommt nur noch selten«, sagte der Besitzer des eingegrabenen Armagnacs. »Zumindest tagsüber. Ein netter Mensch, nicht wahr?«
»Sehr«, stimmte ich widerspruchslos zu. »Und die Autorin von dem da«, ich wedelte mit dem Zettel durch den Tabaksqualm, »kommt sie noch vorbei?«
»Es ist jetzt fünf Uhr morgens«, überlegte Markas Aurelijus. »Mademoiselle Nabelle erscheint immer um fünf Uhr nachmittags, und sie kommt nicht allein, das sage ich Ihnen lieber gleich ganz offen: Meistens begleitet sie ein einäugiger Soldat der Luftwaffe.«
»Sie kommt täglich?«
»Jeden Tag. Um fünf Uhr nachmittags. Soll ich es aufschreiben?«
»Nein. Was bestellt sie?«
»Der Flieger bestellt für sie einen trockenen Martini, aber sie nimmt ihren üblichen Gurkendrink und sprintet dann aufs Klo. Ich glaube, dass sie Sie immer noch liebt. Übrigens geht der Gurkensaft auf Ihre Rechnung, mein Herr.«
»Was Sie nicht sagen! Wie viel ist denn mittlerweile zusammengekommen?«
»Zweihundert Dollar, mein Herr. Lustig, nicht wahr?«
»Und wie, ich habe es sogar passend. Eine Bitte noch.«
»Ich höre, mein Herr.«
»Träufeln Sie ihr morgen ein bisschen Schlafmittel in den Gurkendrink. Wenn sie eingeschlafen ist, entführe ich sie.«
»Aber verzeihen Sie, mein Herr, von dem Zeug bekommt sie doch Durchfall!«
»Ich bezahle die Putzfrau. Abgemacht?«
»In Ordnung. Aber Sie haben mir nichts … Wie gesagt, ich habe nichts gehört, es steht Aussage gegen Aussage. Abgemacht.«
Als kurz darauf die Sturmtruppen von Milošas in das »Ambasada« eindrangen, marschierte ich schon die Kęstučio gatvė entlang, wo ich beinahe unter die Räder gekommen wäre, und das um fünf Uhr morgens! Es war schon fast hell, und eine Eskorte von schwarzen und weißen Limousinen kam die Schnellstraße entlanggedüst. Wie hatte ich das vergessen können, heute kam doch der Präsident von Mauretanien zu einem inoffiziellen Besuch nach Litauen, um Auerochsen und Auerhähne zu jagen oder vielleicht auch um sich eine Frau zu kaufen, eine Miss Baltikum. Natürlich war die Sache nirgends publik gemacht worden, aber wen es etwas anging, der wusste es, wie Gvido und Nataša, Kapitän Milošas oder Markas Aurelijus, und wer mit Rauschgiftschmuggel befasst war, der wusste über solche Kleinigkeiten wie die Visite des mauretanischen Herrschers erst recht Bescheid.
Wie gut, dass ich diese Automatik losgeworden war, denn ehe ich mich versah, hatte man mir die Hände auf den Rücken gedreht und durchsuchte mich schnell und gründlich, aber vergleichsweise schmerzlos. Dabei förderte man auch deinen Zettel zu Tage, Nabė, auf dem von der Glitschigkeit von Mollusken und von mangelnder Liebe die Rede war: »Schnecken empfinden nur wenig Liebe, aber sie flutschen so schön …«
Die mauretanischen Agenten waren der festen Überzeugung, dass es sich um einen kodierten Befehl handle, auf besonders hinterhältige Weise ihr Staatsoberhaupt zu liquidieren, also stellten sie auf merkwürdige Weise meinen Blutdruck fest, untersuchten meinen Urin und meinen Schweiß und hielten kurz Zwiesprache mit Allah, kamen dann aber zu der Überzeugung, dass ich ein harmloser Passant sein müsse. Sie bewirteten mich mit getrockneten Feigen, und als ich die beiden darum bat, mich mit ihrem Jeep nach Užupis zu bringen, nickten sie. Ich hatte nämlich beschlossen, einen Überfall bei der alten Morta Levul zu machen, die im Obergeschoss der »Blanchisserie« wohnte; um diese Zeit stand sie gewöhnlich auf, um ihre Ratten zu füttern.
Die alte Levul war stocktaub, aber wir verständigten uns auf das Prächtigste mit Zeichen, und sie erklärte mir auf subtile Weise, dass der Geigenspieler und der Perkussionist schon wieder ausgezogen seien und keinerlei Einwände gegen einen Literatursalon bestünden. Hierzu zog sie sich die Strumpfhosen aus, imitierte eine Geige und schlug mit den Fäusten scheppernd auf den verzinkten Boden eines Eimers, dass es nur so schepperte. Dann wickelte sie sich die Strümpfe um den Hals, streckte die Zunge heraus und stieß den Eimer die Treppe hinab. Ich verstand vollkommen: Der Virtuose hatte sich aufgehängt, und den Trommelkönig hatte sie höchstpersönlich die Treppe hinunterbefördert, aber die Araber wurden bei dem Schauspiel erneut unruhig, zogen die Alte nackt aus und untersuchten ihren Speichel. Zum Glück flüsterte ihnen Allah auch diesmal zu, dass keine Verschwörung im Busche sei, aber wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, dann hätten es die beiden mit Sicherheit gemerkt …
»Wo um alles in der Welt bist du gewesen?«, fragte meine Frau Terezija schläfrig und überhaupt nicht böse. »Gerty Gaston hat aus New York angerufen, sie will einen Vertrag mit dir unterschreiben.« Terezija hatte sich schon die Haare gewaschen, Kaffee gekocht und rauchte jetzt zerstreut eine Zigarette, lang und dünn wie ein Strohhalm. Ich dachte an die Seifenblasen von Bul Bul und lächelte kaum merklich. Eigentlich hatte ich alles ja ganz genau erzählen wollen, aber Terezija hatte ihre naive Frage schon wieder vergessen und gähnte: »Ich habe von Krishna geträumt! Er war so schön, und ich hätte gerne noch ein bisschen länger geschlafen! Moment mal, bist du wirklich nach Hause gekommen, oder träume ich noch?«
Die Einwohner von Žvėrynas haben eine ganz andere Mentalität als die von Užupis. Allein mit der Zusammensetzung der Nationalitäten sind die Unterschiede nicht zu erklären, und sie sind in den meisten Fällen nicht besonders leicht zu erkennen, aber jeder sieht auf den ersten Blick, dass Užupis herzlicher und aggressiver ist: mehr Element, mehr vergossenes, tollwütiges Blut und mehr unvorhergesehene Naturkatastrophen. Drei Jahre gingen ins Land, und niemand hatte eine Ahnung, wohin Wojciech Zakszewski hatte verschwinden können, ein tüchtiger Metzgermeister und Oberhaupt einer frommen Familie. Keine Blutflecken, gar nichts. Ein Oberst aus der Baltasis skersgatvis gestand, zusammen mit zwei Streifenwachen die Tat begangen zu haben, und erschoss sich. Warum hatte er das bloß getan, für so ein Vergehen wäre er doch fast ohne Strafe davongekommen! Sowohl der Mossad als auch die Siguranca verliehen ihm nach seinem Tod Orden, und das KGB errichtete den Grabstein, ein nettes Beispiel für Zusammenarbeit. Genauso nett lebten in der verlassenen Druckerei und Grafikwerkstatt von Gajauskas, gleich am Tor zum Bernhardinerfriedhof, Katzen und Ratten zusammen.
Dafür ist die Geschichte von Žvėrynas irgendwie konsequenter, aus welchem Blickwinkel auch immer betrachtet. Oder vereinfacht gesagt: Žvėrynas ist wie unzerstörbares Glas. Und Užupis ist ganz anders: Es ist wie ein unerreichbares Ziel. Die beiden düsteren, heruntergekommenen und in sich abgeschlossenen Stadtviertel werden nicht nur durch die unzuverlässige Buslinie 11 miteinander verbunden, sondern auch durch den Regen, das Telefon, sexuell übertragbare Krankheiten, menschliche Mystik, Lieblosigkeit und nur selten auch durch Gefühle.
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