1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Ich stand wie angewurzelt da und bewunderte ihre Grazie und ihre vornehme Hoffnungslosigkeit, während die Ärmste irgendetwas Unartikuliertes ohne Versmaß lallte, wie eine Hafenhure lachte und biedermeierliche Repliken von sich gab. Ich schreckte davor zurück, an sie heranzutreten und sie zu berühren, denn der Erreger waberte überall in der Luft herum, also setzte ich mich stattdessen auf einen Klotz neben dem Holzschuppen, und die Teetasse schlug gegen meine Zähne, obwohl es nicht kalt war. Aus Nabės Mund quollen Flüche in die Pfütze, in den Flieder und in die Blumen, und mit ihnen stürzten Wassermolche und Kröten heraus, die durch den Beifuß und die Hanfpflanzen krochen. Dann öffneten sich Nabės Poren, und gelbe Wespen und grüne Schmeißfliegen stürzten sich auf den hervorquellenden salzigen, dampfenden Höllenschweiß. Nabė läuterte sich und wurde heiterer, und die Welt glaubte zwar weder ihr noch ihren Poetismen und ihrer Infantilität, gewährte ihr aber die Gelegenheit, sich zu reinigen. Als sich aber schließlich aus ihrem Körper eine große schwarze Katze absonderte und mit einem Satz in den niedrig hängenden Wolken verschwand, zitterte mir die Tasse in den Händen, doch Nabė seufzte auf und fiel in sich zusammen wie der dünne Luftschlauch eines Sportrads – pschschsch!
Rasch holte ich aus dem Schuppen einen sauberen Kartoffelsack, stopfte das arme Mädchen hinein, nahm einen stabilen Haken und hängte den Sack an eine kräftige Metallstange; die Nachbarn klopften an ihr sonst ihre Teppiche aus, manche auch ihre Mädchen. Der Haken hielt die achtundvierzigeinhalb Kilogramm von Nabės Fleisch und Knochen mühelos aus, und Nabė zappelte zwar weiter, aber ihre Bewegungen wurden allmählich schwächer, und der Sack schaukelte nur noch leicht. Nur ein blauschwarzes Haarbüschel ragte heraus, dazu ein Gesicht, bleich wie das eines Pierrots, und ein Hals, dünn wie der einer Flasche: Der »Lorbeer der Künste« ähnelte jetzt eher einer zur Mast aufgehängten Gans.
»Meine liebe Nabė«, murmelte ich und rauchte genüsslich weiter, obwohl ich wusste, dass sie mich noch nicht verstehen konnte. »Meine liebe Nabė, ich habe für dich einen Salon in Užupis gefunden, aber du wirst ihn kaum benötigen. Du wirst es auch im Sack gut haben. Du liebst doch Poeten, Philosophen, Türken und Griechen … Schaukle ein wenig im Sack … Schau, auch Maironis hat auf einem schwankenden Kahn auf dem Vierwaldstätter See gedichtet, und du tust es in einem Sack, ach ja.« So murmelte ich und beruhigte mich allmählich wieder. Der alte und trotzdem wunderbare Kartoffelsack würde ihr Sicherheit garantieren, wie die stählerne Tür einer Kunstkammer ihren Schätzen, und ich streichelte die Stelle, wo der Ausbeulung nach zu urteilen das Gesäß der Bakkalaureatin sein musste.
Von den Wolken, die sich über Žvėrynas und dem Vierwaldstätter See zusammengebraut hatten, wehte wieder eine frische Brise. Der Sack mit Nabė schwang hin und her wie ein Ahornblatt im Wind oder wie ein aus dem Takt geratenes Uhrenpendel. Und als der Wind wieder nachließ, geschah das Wunder: Nabė erholte sich! Sie streckte die Zunge heraus, die von der Kälte ganz schwarz geworden war, und verzog fürchterlich das Gesicht, hörte aber auf zu fluchen, und die letzte Kröte, die von ihrer Zunge herab ins Gras fiel, war schon nicht mehr am Leben. Das Gift hatte Nabės Körper freilich noch nicht verlassen, denn als sie ihre Augen zusammenkniff und in meine Richtung spuckte, fiel der grüne Geifer auf ein dunkelblaues Klettenblatt herab und brannte dort ein Loch hinein, groß wie ein 5-Centas-Stück oder das Auge eines Käuzchens. Ich blickte hindurch und sah den Vierwaldstätter See, den traurigen Hof in Žvėrynas und die ganze übrige Welt, doch bald vergaß ich Lelešius, seine Tochter, Petručijo, Gvido, Nataša, Kapitän Milošas und den Wirt Markas Aurelijus, denn die Welt unter Nabės Sack erwachte zu gärendem Leben, geriet in Bewegung und brodelte wie junger Wein, wenn er warme Blasen wirft. Genau deshalb reiste mein Teeblatt mit dem harmlosen Amokerreger bereits durch den Mastdarm, verdaut und ungefährlich. Ich würde das allen einmal wünschen.
Der Sack hörte auf zu schaukeln. Nabė öffnete ihre geröteten schrägen Augen einen Spalt weit und sah sich um: »Schau!«, rief sie plötzlich. »Schau!« Seit dem vorletzten Dreikönigstag duzte sie mich nämlich, damals hatte sie mich zum ersten Mal giftig angezischt und »Schuft« genannt, und schon damals hatte sie mich zum Objekt ihrer furchtbaren Wahnsinnsliebe erkoren, der Ausdruck stammte übrigens von ihr. »Schau doch!«, rief sie jetzt. »Siehst du es?«
Ob ich was sah? Also schaute ich. Auf dem Vierwaldstätter See erschien ein blaues Segelschiff, genau wie das, das den Tee aus Ceylon transportiert. Auf ihm saß der nüchterne Maironis und weinte leise. Der Sänger, der Prälat. Die Vision war so klar, dass ich den Sack mit Nabė schaukelte und unbewusst Paul Valéry deklamierte:
Einst, auf der Weite des Ozeans
(frag nicht, wo das war!),
vergoss ich ein Glas alten Weins
in die kalten Abgründe des Nichtseins
Maironis kam näher, und Nabė, diese fürchterlich kurzlebige Schriftstellerin unserer Tage, wurde immer schwerer, ich konnte es richtig spüren. Zwar baumelte sie noch zwischen Himmel und Erde, aber ihre Formen, ihr Geruch und ihr Gewicht wurden immer irdischer und klarer, auch wenn die Formen noch etwas unproportioniert waren, ihr Atem nach Algen roch und sich über das Gewicht noch keine Aussage treffen ließ. Dennoch wurde sie immer kräftiger, und wer sich noch an seine Pubertät erinnert, der weiß, wie furchtbar diese Zeit ist: die Pickel, die Unwissenheit, die Abscheu vor dem eigenen Körper, die ersten Bartstoppeln oder Menstruationen, die klugen Ratschläge und der Spott der Erwachsenen, die die Hölle der Pubertät bereits hinter sich haben, sowie der Spott und die zweideutigen Anspielungen der Gleichaltrigen …
Ich band den Sack auf und holte Nabė herunter, und da saß sie nun nackt auf der Bank, die knochigen Hände zwischen den schlanken Schenkeln, eine lebendige Kopie von Munchs »Pubertät« und Vorbild für einen Abituraufsatz zu dem Thema »Die pubertierende Poetin auf dem Vier-Verhüterli-See«. Sie zerquetschte eine Mücke, die sich bereits voller Blut gesogen hatte, und auf ihren Fingern blieb ein kleines Bluttröpfchen zurück. In diesem Augenblick sprossen ihr pechschwarze Schamhaare, und sie pubertierte direkt vor meinen Augen und in Gegenwart meiner gesamten Nachbarschaft. Der Wasserwerkswächter, seine Frau, stoisch wie die heilige Katharina von Siena, der beinlose Schuster Stanislovas, die jungen Geschäftsleute Ruslan und Natalija, der Traumatologe Elegijus und die Schneiderin Pirštinė mit ihren schwarzen Knopfaugen, all die alteingesessenen Bewohner von Žvėrynas hielten ihre Fahrräder an und starrten sie mit großen Augen an.
Nabė veränderte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Plötzlich quoll poetisch-silbisches Blut aus ihrem Mund, sie furzte holperige »Vers libres«, kicherte zufrieden und ähnelte immer mehr einer unglücklichen, aber würdigen Poetin. Sie schwoll im Takt mit der vergänglichen Welt an, schlug schleimige Triebe aus, und ihr Körper frohlockte und kümmerte sich weder um den tränenreichen Maironis, noch um die Österreicherin Ingeborg oder um Heinrich Heines »Lyrisches Intermezzo«. Nabė reifte weiter, ja, sie behauptete sogar, bereits herangereift zu sein, aber um was für einen Preis! Es schien, als würde sie gleich vor Stolz platzen, und die Vorahnung von Ruhm dröhnte und toste wie Magma durch ihre Eingeweide.
In ihrer Kindheit, hatte sie mir einmal zaghaft erzählt, habe sie mit einer Freundin gespielt, sie seien am Strand. Sie waren allein, zogen sich aus, legten sich der Länge nach auf eine Matte, zogen Strohhüte und Sonnenbrillen an und bräunten sich unter der Lampe, während sie in zerfledderten Modezeitschriften herumblätterten.
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