Sowohl aus ethischer wie auch aus praktischer Sicht ist das BIP als Maßstab für wirtschaftlichen Fortschritt sehr fragwürdig. Die Art von nicht qualifiziertem wirtschaftlichem Wachstum, welches das BIP berechnet, ist nicht unbedingt gut und kann oftmals schädlich sein. Herman Daly drückt es so aus: „Es ist ein grundlegender Fehler, die Erde zu behandeln, als ob sie zum Ausverkauf stünde.“ (zitiert bei Al Gore 1992, 191)
Doch genau das tun wir, wenn wir das wahre Kapital des Planeten, nämliche seine Fähigkeit, leben zu beherbergen, zerstören, um künstliches, abstraktes und totes Kapital in Form von Geld (etwas, das tatsächlich keinen Wert in sich hat) anzuhäufen. Wir verschulden uns tatsächlich am Wohlstand allen Lebens in Zukunft, um einen kurzfristigen Gewinn für eine Minderheit der Menschheit zu erzielen. Dies stellt eine sehr gefährliche Art der Finanzierung über Schulden dar.
Viele plädieren nun für die Ersetzung des BIP durch einen „echten Fortschrittsindikator“ (Genuine Progresse Indicator, GPI) als Alternative. Der GPI unterscheidet zwischen Leben fördernden und Leben zerstörenden Aktivitäten. Die ersteren werden als produktiv, die letzteren als Kosten bewertet. Dies ermöglicht eine genauere Bestimmung von echtem wirtschaftlichem Fortschritt ‒ einem Fortschritt, dessen Grundlage eine qualitative Entwicklung und nicht so sehr quantitatives Wachstum ist. Die Anwendung dieses Indikators macht deutlich, dass der GPI in den USA während der fünfundzwanzig Jahre vor 1992 tatsächlich gesunken ist, obwohl das BIP gewachsen ist (Nozick 1992). Spätere Daten scheinen zu bestätigen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Der GPI liegt im Jahr 2002 immer noch geringfügig unter dem Niveau von 1976.
Wenn wir über die traditionelle, am BIP gemessene Wachstumswirtschaft hinausgelangen wollen, dann müssen wir einen qualitativen Zugang wählen. Die herkömmlichen Vorstellungen von Profit, Effizienz und Produktivität müssen infrage gestellt und neu definiert werden. Brauchen wir Wachstum? Gewiss. Wir brauchen ein Wachstum an Kenntnissen und Weisheit, ein Wachstum am Zugang zu einer Grundversorgung für alle, ein Wachstum an menschlicher Würde. Wir müssen auch das Schöne fördern, die Vielfalt des Lebens erhalten und die Gesundheit der Ökosysteme kräftigen. Doch wir brauchen kein Wachstum an überflüssigem Konsum. Wir brauchen noch weniger ein krebsartiges Wachstum, das Leben zerstört, nur um totes Kapital für einen kleinen Teil der Menschheit anzuhäufen.
Verzerrte Entwicklung
Als die Anthropologin Helena Norberg-Hodge im Jahr 1975 zum ersten Mal in die Ladakh-Region Kaschmirs in Indien kam, fand sie dort ein Volk vor, das bis dahin völlig isoliert von der Weltwirtschaft gelebt hatte. Dennoch erfreuten sich die Bewohner von Ladakh einer hohen Lebensqualität. Die lokalen Ökosysteme waren im Kern gesund, Verschmutzung war praktisch unbekannt. Es stimmt zwar, dass man an einige Ressourcen schwer herankam, doch die meisten Menschen arbeiteten nur vier Monate im Jahr hart, sodass viel Zeit für die Familie, für Freunde und für kreative Tätigkeiten blieb. So brachten die Bewohner von Ladakh eine beeindruckende Vielfalt an Kunst hervor. Die Leute lebten in geräumigen, der Gegend angepassten Häusern. Fast alle Güter des Grundbedarfs wie Kleidung, Häuser und Nahrung wurden produziert und verteilt, ohne dass man dafür Geld benutzte. Als Norberg-Hodge einen Einheimischen fragte, wo denn die Armen lebten, machte der Angesprochene zunächst einen verwirrten Eindruck, um dann zu antworten: „Wir haben hier überhaupt keine armen Leute.“ (1999, 196)
Im Lauf der Jahre jedoch begann sich die lokale Wirtschaft zu „entwickeln“. Die ersten Touristen kamen in die Gegend und brachten Erzeugnisse und Erfindungen der Weltwirtschaft mit. Bald merkten die Leute, dass sie Geld brauchten, um sich Luxusgüter kaufen zu können. Nach und nach orientierten sich die Leute an der Geldwirtschaft. Als man Feldfrüchte für den Verkauf einführte, wurde die Wirtschaft vom Erdöl abhängig, da ein modernes Transportwesen für die Verschiffung der Ware erforderlich war. Auch der Zustand der lokalen Ökosysteme verschlechterte sich mit der Verbreitung des Chemieeinsatzes in der Landwirtschaft. Als sich die lokale Wirtschaft auflöste, erodierte auch die Kultur der Ladakh-Region, und die Menschen verloren das Gespür für ihre Identität.
Wenn wir diese Geschichte hören, dann ist unsere erste Reaktion darauf vielleicht ein nostalgischer Blick zurück auf eine einfache Zeit und Kultur. Die meisten von uns mögen das, was den Bewohnern von Ladakh widerfahren ist, als traurig, aber in gewisser Weise unvermeidlich betrachten. Andere mögen sich fragen, ob es nicht eine andere Möglichkeit der Öffnung auf die Welt hin gegeben hätte, einen Weg, der nicht zwangsläufig zum Niedergang der lokalen Kultur und Ökosysteme geführt hätte.
Jedenfalls scheint die Frage angebracht zu sein, ob der Wachstumsprozess, wie ihn die Bewohner von Ladakh erlebt hatten, einen „Fortschritt“ oder eine Entwicklung darstellte. Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, sollte Entwicklung qualitative Verbesserungen des Lebens der Menschen beinhalten. Wogen die „Wohltaten“ der Weltwirtschaft (Fernsehen, Zugang derer, die es sich leisten können, zu bestimmten Konsumgütern, ein modernes Transportwesen) die Kosten in Gestalt von Armut, ökologischer Zerstörung und kulturellem Verfall auf? Das ist unwahrscheinlich. Jedenfalls scheint es eine grobe Verzeichnung der Tatsachen zu sein, einen solchen Prozess als „Entwicklung“ zu bezeichnen. Und doch war der Großteil der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg in ein groß angelegtes „Entwicklungs“-Unternehmen involviert, das viele Gemeinsamkeiten mit dem Prozess aufweist, den die Bewohner von Ladakh durchgemacht haben.
Es ist nicht zu leugnen, dass es in den letzten sechzig Jahren echten Fortschritt in der Eindämmung von Krankheiten, der Erhöhung der Lebenserwartung und einem verbesserten Zugang zu Bildung gegeben hat. Doch es ist verstörend, dass selbst diese Errungenschaften nun, da sich die Armut in vielen Ländern Afrikas, aber auch Asiens und Lateinamerikas, verschärft, wieder gefährdet sind. Selbst einige der „Wunder“-Ökonomien Asiens, die Lieblingskinder der Entwicklungsideologen, haben aufgrund der Finanzkrisen nach und nach Rückschläge erlitten.
Die Entwicklung der Armut
Tatsächlich ist dieser Prozess der Entwicklung oftmals ein Beispiel der „Fehlentwicklung“, beruhend auf den Grundannahmen der Wachstumsökonomie, die wir bereits beschrieben haben. Dies gilt insbesondere für Mammutprojekte wie Staudämme, Bewässerungssysteme, Freihandelszonen und viele andere industrielle Entwicklungen. All diese Unternehmungen mögen tatsächlich „Wachstum“ innerhalb der Geldökonomie produzieren, deren Maßstab das BIP ist (obwohl sie mit der gleichen Wahrscheinlichkeit auch eine drückend schwere Schuldenlast entstehen lassen), doch oftmals tragen sie auch zur Verarmung der Mehrheit der Leute bei und untergraben die Gesundheit der Ökosysteme. Man betrachte nur die folgenden Beispiele:
– Das Narmada-Bewässerungsprojekt, das zurzeit in Indien realisiert wird, beinhaltet den Bau von dreißig großen, 135 mittleren und dreitausend kleinen Dämmen, mit denen das Wasser des Narmada und seiner Zuflüsse nutzbar gemacht werden soll. Insgesamt geht man davon aus, dass durch das Projekt mehr als eine Million Menschen von ihrem Land vertrieben werden und dass 350.000 Hektar Wald zerstört werden, was zu einer Vernichtung empfindlicher Pflanzenarten und einer Massentötung von wild lebenden Tieren führt. Viele der Betroffenen sind Adivasi (indigene Bewohner), die das Land verlieren werden, das sie bereits seit Jahrtausenden bewohnen.
– Überall auf der Welt hat die Einführung von Hybrid-Saatgut im Zuge der „grünen Revolution“ zu kurzfristigen Steigerungen der landwirtschaftlichen Produktivität geführt, doch zu einem hohen Preis. Die neuen Sorten brauchen viel (und teuren) Kunstdünger und Pestizide, welche dem Wasser, dem Boden und der Gesundheit der Landarbeiter schaden. Viele der Sorten brauchen mehr Wasser, was eine extensive Bewässerung erforderlich macht (und genau das führt zu den riesigen Dammprojekten wie in Narmada). Die meisten der neuen Hochertragssorten werden als Monokulturen angepflanzt und verdrängen die traditionellen Mischkulturen. Die Landwirtschaft wird so anfälliger für Dürren, Schädlingsbefall und Krankheiten. (Dankelman/Davidson 1988) In jüngerer Zeit hat die Einführung von gentechnisch veränderten Feldfrüchten wie etwa herbizidresistenten Sojabohnen in Südamerika zu einer weiteren Konzentration des Reichtums bei den Großgrundbesitzern geführt und gleichzeitig die Vertreibung von kleineren Produzenten sowie die Zerstörung komplexer Ökosysteme gefördert.
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