Da wohnen nur die Opfer, du Opfer, hatte Lea eines Tages zu ihr gesagt. Ein gemeines Mädchen aus ihrer Klasse, die im privilegierten Kreuzviertel wohnte. Sie war wirklich zu einem Opfer geworden, zu einem Hartz-IV-Opfer, wie ihre Mutter einmal geschluchzt hatte.
Paula erinnerte sich noch an die glückliche Zeit, als ihr Vater immer in Anzug und Krawatte aus dem Haus gegangen war. Das war ein ganz anderes Leben gewesen.
Sie hatten in einem Einfamilienhaus in Brackel gewohnt. Einem lustigen Haus, denn ihre Eltern hatten viel gelacht.
Paula beschlich eine schreckliche Angst, denn sie konnte ihre beste Freundin Lotti nicht mehr besuchen, konnte mit ihrer Lieblingslehrerin nicht mehr sprechen. Sie besaßen auch kein Auto mehr. Ihr Leben war Paula fremd geworden. Selbst in diesem Zwielicht hier unten war es heller als in ihrem Kinderzimmer.
„Hallo, ist da jemand?“, rief Paula zögernd in den schwarzen Schlund, sie schlich ein paar Schritte vorwärts und starrte einen festen Punkt am Ende des Ganges an. Plötzlich huschte ein Lichtkegel an der hinteren Wand vorbei, sie schrie auf und wollte schon panisch ins Freie stürzen, als auf einmal ein schwarzes Gesicht mit leuchtenden Augen aus dem Tunnel auftauchte. Die Gestalt trug einen Schutzhelm auf dem Kopf und war von oben bis unten voll schwarzem Dreck. Eine Lampe, die auf seinem Kopf saß, blendete sie. Um den Hals trug er ein Tuch von undefinierbarer Farbe.
„Glück auf, Mädchen“, sagte die Gestalt und ihre weißen Zähne blitzten aus dem schmutzigen Gesicht hervor.
Wollte dieser komische Typ sie etwa auch noch verspotten, so wie Lea es jeden Tag machte?
„Wo ist das Glück?“, fragte sie trotzig und ging vorsichtshalber einen Schritt rückwärts. Der Mann musste ein Bergarbeiter sein, das hatte sie mal in einem Bildband gesehen. Komisch, dachte sie, diese Zeche wurde doch schon lange dichtgemacht. Ihr Opa hatte auch als Bergarbeiter gearbeitet.
„Watt machse denn nu hier, gibz keine Spielplätze mehr im Pott, odda warum bisse hier im Dunkeln am rumsitzen?“
Paula starrte ihn mit offenem Mund an und überlegte immer noch, ob sie lieber das Weite suchen sollte.
„Mach die Klappe zu, deine Milchzähne werden sauer“, sagte er und begann die Felswand abzuklopfen. Den Spruch hatte sie schon einmal gehört, der war auf jeden Fall uralt. Paula hockte sich wieder in ihre Ecke und griff heimlich in ihre Jackentasche, die bereits ein Loch hatte. Sie krallte sich an dem dünnen Heft fest, so als ob er durch den fadenscheinigen Stoff blicken könnte. Aber der schwarze Mann war so sehr mit seinem Abklopfen beschäftigt, dass er es gar nicht bemerkte.
„Willze ein Büttaken mit Leebawuast oder lieber ne Käsekniffte?“, fragte er über die Schulter hinweg. Erst jetzt fiel ihr auf, wie hungrig sie eigentlich war. Ein Leberwurstbrot hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen, es gab zu Hause oft Schmalzbrote. Ab und zu war auch mal die abgepackte Mortadella aus dem Angebot dabei. Paula schüttelte es bei dem Gedanken an ihr morgiges Frühstück. Ihre Mutter schlief immer lange, weil sie neben ihrer Putzstelle beim Stadtplanungsamt auch noch bei Saturn putzen ging. Paula machte sich allein ihr Frühstück, aber meistens ging sie nüchtern aus dem Haus. Wollte sie noch nach Hause gehen? Vielleicht könnte sie mit zu ihm? Wenn es dort Leberwurstbrote gab, dann war er bestimmt ein glücklicher Mensch. Sie wünschte sich auf einmal, dass er ihr Großvater wäre, der urplötzlich aufgetaucht war, um ihr zu helfen. Der vermeintliche Großvater klopfte noch ein paar Mal die Wand ab und drehte sich wieder zu ihr. Schlich sich an ihre Seite, rutschte an der Wand hinab und schaute sie an.
„Du hass doch nich etwa getz Angst, odda? Ich bin der Kallheinz, abba meine Kumpels sagen Kalle zu mir“, damit streckte er ihr seine tiefschwarze Hand entgegen und Paula ergriff sie mit einem Urvertrauen, das sie gar nicht an sich kannte. Normalerweise war sie Fremden gegenüber immer distanziert und vorsichtig.
Aber dieser Kalle hatte etwas so Vertrauliches an sich. „Hasse was mitgehen lassen, odda warum versteckse dich auf Minister Stein, in meinem Schacht?“
Paula erschrak, deshalb kam er ihr so vertraut vor, er sprach genauso wie ihr Opa.
Der, wie ihre Mutter immer lächelnd gesagt hatte, vom alten Schlag gewesen war. Der einen kleinen Schrebergarten in Eving und ein verstimmtes Klavier besessen hatte.
Sie zog ihr Notenheft aus der Tasche.
„Es ist nur die günstige Version, die für Fortgeschrittene. Ich habe mal gespielt“, sehnsüchtig dachte Paula an ihren wunderbaren Klavierunterricht.
„Wenn ich nur spielen könnte!“, fast hätte sie wieder geweint. Aber das war ihr vor Kalle zu peinlich. Sie klammerte sich an dem Heft fest wie an einem Rettungsanker. Schlug es dann ehrfürchtig auf und fuhr mit schmuddeligen Fingerkuppen und abgenagten Fingernägeln darüber.
Augenblicklich formten sich die Noten zu einem Klang und vollendeten in einer schönen Melodie. Paula lächelte und begann zu erzählen, sie konnte die Worte einfach nicht mehr aufhalten. Sie schlüpften ihr von der Zunge über die Lippen und tanzten wie eine Sonette in der modrigen Luft. Sie erzählte von früher, von ihrem Zuhause, von den Freundinnen und den pingeligen, aber gutmütigen Nachbarn. Von Erdbeereis im Hörnchen, Urlaub an der Ostsee, Omas Biersuppe und Brausebonbons mit Himbeergeschmack.
Die leeren Bierflaschen im Schlafzimmer, den ewig laufenden Fernseher, den Geruch nach abgestandenem Zigarettenqualm und die abgelaufenen Joghurts im Kühlschrank ihres jetzigen Lebens, erwähnte sie nicht.
Und auch Kalle fing zu erzählen an.
„Ich war schon imma aufm Pütt, hab ständig schwarzen Ruß unterm Auge. Ich wohne in Bochum, inne Zechensiedlung, wo alle Häuser grau und gleich aussehen. Es brodelt ständig hier im Revier, mal im Hochofen, mal im Erbsensuppenpott, odda auch ma inne Kneipe. Wenn der Himmel glutrot iss, sagen wir widda, Christkind backt Plätzcken.“
Paula versank in seinen Geschichten, die sie wesentlich spannender als die acht Bände von Harry Potter fand. Die hatte sie sich in der Schulbibliothek einmal ausgeliehen.
Er erzählte mit seinem Ruhrpottdialekt. Von der Früh- und Nachtschicht, von seinen Kumpels, mit denen er die Hälfte seines Lebens verbrachte. Den aufgehängten Broten in ihren fest zugeschnürten Stoffbeuteln, damit sich keine Ratten darüber hermachen konnten. Dem sturen Steiger, der immer nur herummotzte und den sie alle heimlich Karlarsch nannten. Von der Waschkaue, in denen sie laut die aktuellen Hitparadenlieder sangen, von dem Bienenstich, den nur Willis Frau so vorzüglich backen konnte und dem Stielmus, deren vordersten Platz nun unangefochten die Frau von Jupp hielt. Von der monatlichen Lohntüte, die so manch einer schon nach acht Tagen wieder leer gemacht hatte und sich hier und da mal einen Heiermann leihen musste.
Was war denn ein Heiermann?, dachte Paula. Kalle erzählte auch von der Hitze unter Tage und dem Dreck, der wie eine zweite Haut zu ihm gehörte und seinem Alltag den nötigen Bestand und Halt lieferte. Der ihm den nötigen Respekt für seine Zeit unter Tage zollte, ihn wachsam sein ließ und ihn zu einem Teil des Ganzen machte.
Nach einer weiteren Stunde musste Paula sich wirklich auf den verhassten Heimweg machen, mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder herzukommen.
Was sie auch tat.
So wurden sie zu einem Team. Sie hatte endlich jemanden, mit dem sie reden konnte, der ihre Ängste verstand und ihr Mut für die Zukunft machte.
Der ihr befahl, niemals aufzugeben und die Kumpels nie im Stich zu lassen. Manchmal fragte sie sich, von welchen Kumpels er denn redete. Sie sah jedenfalls nie einen, der ihm nur im Entferntesten ähnlich sah. Sie wollte ihn auch nicht fragen, in welcher Sohle seine Kumpels gerade waren. Das war ihr egal, sie schöpfte wieder neuen Lebensmut und besuchte bald eine Klavier-AG in der Schule, die vom Förderverein unterstützt wurde. Auch wenn Lea spottete, lachte Paula nun umso lauter und ließ sie verwirrt hinter sich stehen. Sie bekam neues Selbstvertrauen. Wenn ihre Mutter wieder zu jammern anfing, dass sie eine neue Hose brauche, sagte Paula nur: „Du hast doch mich“, legte die Arme um ihren Hals und küsste sie auf die Wange.
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