Roder nickte wortkarg wie immer und machte sich auf den Weg zum Mercedes, blieb abrupt stehen und wandte sich Mechthild noch einmal zu. „Heller habe ich erreicht und instruiert. Er kommt anschließend, wenn er mit dem Makler gesprochen hat, hierher, um Sie und Ayse ins Präsidium zu fahren.“ Dann ging er eilig davon.
„Danke, Roder!“ rief ihm Mechthild noch hinterher. Er hat einen guten Überblick über die Abläufe, dachte sie. Und weiß immer, was wann zu tun ist. Wenn er nur nicht so mürrisch wäre, hätte man einen phantastischen Kollegen.
Ayse kehrte zu ihrer Chefin zurück und meldete, dass sie fürs Erste alles beisammen hätte und alle Anwesenden vorläufig entlassen wären. Sie warteten draußen vor dem Gebäude, da sie nach Abschluss der Tatortuntersuchung ihre Sachen weiter einladen wollten.
Mittlerweile hatte sich der Trupp des Erkennungsdienstes aufgeteilt. Zwei Beamte waren damit beschäftigt, Proben von Boden und Deckel der Grube und Vergleichsproben aus der Halle zu nehmen. Die anderen waren draußen rund um das Gebäude damit beschäftigt, das Areal nach möglicherweise doch noch vorhandenen Spuren oder Beweisstücken abzusuchen. Kollegialerweise halfen ihnen die verbliebenen Beamten der Schutzpolizei bei dieser undankbaren Aufgabe. Obwohl die Wahrscheinlichkeit gegen Null ging, etwas Relevantes für die Ermittlung zu finden, musste diese Arbeit gemacht werden. Schludrigkeit bei der Spurensicherung konnte für eine Ermittlung tödlich sein.
Mechthild Kayser hatte sich unterdessen auf einen Mauervorsprung in einer Ecke der Halle gesetzt und versuchte die ganze Szenerie auf sich wirken zu lassen. Die Halle, das Rolltor, die Grube.
Sie wollte sich eine Vorstellung vom Geschehen machen: Ein Fahrzeug fährt auf den Parkplatz vor der Halle oder gleich direkt hinein. Es ist ruhig hier, menschenleer bis auf den oder die Täter. Der Täter ... Halt! Es könnte auch eine Frau gewesen sein. Auszuschließen war das nicht. Also: Jemand dringt in die leere Halle ein, verbesserte sie sich. Das Rolltor ist vielleicht nie verschlossen. Kann sein, dass es dunkel war. Also brauchte der- oder diejenige Licht. Hatte er oder sie das Auto in die Halle gefahren und im Scheinwerferlicht sein Werk vollendet, oder hatte er oder sie Lampen mitgebracht? Der Sack mit der Leiche wird in die Grube gelegt. Die Grube wird mit Brettern verschlossen, und dann wird Zement zu einem Estrich angerührt und akkurat aufgetragen und glatt gestrichen. Waren es vielleicht doch eher mehrere Personen, die diese Arbeiten durchführten?
KK Heller kam in die Halle und holte Mechthild mit einem überflüssigen „Na, wie sieht’s aus?“ aus ihren Gedanken,.
„Schon fertig mit dem Makler?“ fragte sie.
Heller nickte. „Soll ich gleich oder später auf dem Meeting?“ fragte er.
„Wenn es nichts Außergewöhnliches ist, dann besser nachher mit allen anderen. Falls es aber eine heiße Spur gibt, dann bitte gleich“, antwortete Mechthild. Sie winkte Ayse zu sich, und zusammen mit Heller fuhren sie zurück ins Präsidium. Dort hielt jeder für sich seine bisherigen Ermittlungsergebnisse schriftlich fest, um sie auf der späteren Dienstbesprechung allen vorzutragen.
Mechthild setzte sich an ihren PC und ging die Vermisstenmeldungen der letzten Wochen durch. Das war eine Standardaufgabe bei unbekannten Toten. So gut wie möglich hatte sie sich das Gesicht der Toten eingeprägt und verglich ihre Erinnerung nun mit den in der bundesweit eingerichteten Vermisstendatei gespeicherten Photos. Blonde Frauen waren auch dabei, aber sie schienen ihr alle zu jung. Mechthild schätzte das Alter der Toten auf über vierzig. Aber sie konnte sich irren. Die Sicht durch den Plastiksack war nicht besonders gut gewesen. Sie würde die Suche noch einmal beginnen, wenn sie aus der Gerichtsmedizin weitere Identifizierungsmerkmale geliefert bekommen hatte. Jetzt brachte sie erst einmal ihre eigenen Notizen in einer geordneten Form zu Papier.
Zwischendurch rief sie die Staatsanwaltschaft an und teilte dem für Tötungsdelikte zuständigen Oberstaatsanwalt den Sachverhalt und den derzeitigen Stand der Ermittlungen mit. Der Oberstaatsanwalt kündigte an, dass er an der geplanten Dienstbesprechung teilzunehmen gedenke, und erwartete eine rechtzeitige Verständigung.
Dann schickte Mechthild dem Polizeipräsidenten, der, da die K-Leiter-stelle momentan unbesetzt war, im Augenblick auch kommissarischer Leiter der Kripo war, eine E-Mail über den Leichenfund und überließ es ihm, die anderen Kommissariate elektronisch per Hausnachrichten über den Fall zu informieren.
In der Pathologie war Prof. Dr. von Sülzen gerade mit der Beschreibung des ersten Eindrucks der unbekannten Toten fertig. Seine Helfer hatten begonnen, die Frau vorsichtig zu entkleiden und die einzelnen Kleidungsstücke zu archivieren. Roder hatte sich etwas abseits des Seziertisches aufgestellt und beobachtete von Sülzen. Die Frau trug sehr altmodische Unterwäsche und Strumpfhalter, fiel Roder auf. Wie früher seine Mutter, dachte er, die er einmal als Junge beim Ankleiden überrascht hatte.
Die nackte Leiche wurde jetzt hin- und hergewendet und in jeder Position abgelichtet. Der Rücken der Toten war unversehrt. Lediglich großflächige, dunkle Leichenflecken hatten sich durch das abgesunkene Blut gebildet. Vorne, auf dem Unterbauch, waren mehrere kreisrunde Wunden mit einem Durchmesser von circa einem Zentimeter zu erkennen, die sich durch einen dunklen Wundrand deutlich von der ansonsten hellen Haut abhoben. Die Brüste waren an der Unterseite mit Schnitten in Form eines auf dem Kopf stehenden T aufgeschnitten und die Wundränder anschließend mit weißem Gewebeklebeband wieder zusammengefügt worden.
KHK Roder steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Jetzt kam der unangenehmste Teil der Obduktion. Während in einigen anderen europäischen Ländern gezielt nur die Teile einer Leiche gerichtsmedizinisch untersucht wurden, deren Relevanz sich aus den davor liegenden Ermittlungen ergeben hatten, gab es in Deutschland nur die Totalobduktion. Die Deutschen waren eben besonders gründlich.
Von Sülzen sprach seine Ergebnisse, Feststellungen und Vermessungsdaten in das an seinem Kittelkragen befestigte Kehlkopfmikrophon und setzte zum V-Schnitt für die Öffnung des Oberkörpers der Leiche an.
Roder umgab sich mit einer Wolke aus Zigarettenqualm. Die Ansicht einer Leichenöffnung machte ihm nichts aus, aber er hasste den sich ausbreitenden Geruch. Besonders abstoßend empfand er den Gestank von Wasserleichen. Er hatte zwar noch nie gekotzt, aber wenn sich der Verwesungsgestank auf seine Geschmacksnerven legte, wurden seine Zunge und sein Gaumen trocken, und ein Würgereiz stellte sich ein. Eine instinktive Reaktion, die er nicht mit seinem Willen beherrschen konnte. Es gelang ihm lediglich, sich nicht zu übergeben. Von Sülzen schien das alles nichts auszumachen. Ein bis zwei Stunden würde es jetzt noch dauern. Dann würde Roder so viel Informationen zusammenhaben, dass er seine Kollegen auf den neuesten Stand bringen konnte und sie genügend Ansätze für ihre weitere Ermittlungsarbeit hätten.
Ab heute wusste Benjamin, dass das Leben für ihn zugleich schön und schrecklich sein würde.
Sein Vater hatte in den letzten zwei Jahren seinen Betrieb ausgebaut, und gestern Abend waren seine Eltern auf einen Empfang des Wirtschaftsministeriums für mittelständische Unternehmer eingeladen gewesen.
Die Schlaftabletten nahm er nicht mehr. Seine strikte Weigerung hatte mal wieder eine schlimme Auseinandersetzung mit seiner Mutter nach sich gezogen. Er merkte, dass er immer aggressiver gegen sie wurde, aber statt sich mehr um ihn zu kümmern, drohte sie ihm immer häufiger mit einem Internat. Berta hatte ihm erzählt, wie schlimm und erniedrigend die Verhältnisse dort für ihn sein würden, und da er die Drohung seiner Mutter sehr ernst nahm, versuchte er weitere Konflikte mit ihr zu vermeiden. Das funktionierte zwar, aber er zog sich auch viel stärker in sich zurück, und neben seiner unerfüllten Liebe zu seiner Mutter wuchs das Misstrauen.
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