Das Besprechungszimmer hatte die Tristesse aller mit öffentlichen Mitteln eingerichteten Funktionsräume. Im Gegensatz zu den Büros der Mitarbeiter fanden sich hier keine persönlichen Gegenstände, die die Atmosphäre auflockerten. Photos, Pflanzen, Andenken fehlten völlig. Die Vorgaben für die Beschaffung von Büromöbeln waren eng gefasst. Entscheiden konnte man sich lediglich zwischen zwei verschiedenen Kunststoffoberflächen: hellgraues Plastik oder Nussbaumimitat. Wer etwas auf sich hielt und bereit war, in seine Arbeitsumgebung selbst zu investieren, der stellte sich die Möbel für seine Besprechungsecke im Büro selbst zusammen. Das wurde von der Leitung toleriert, führte es ja schließlich auch dazu, Kosten einzusparen. Doch ließ sich auch der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass so manche Mitarbeiter auf diesem Weg ihre alten Wohnzimmereinrichtungen einer neuen Nutzung zuführten oder besser gesagt diese Möglichkeit zu deren Entsorgung nutzten. Jedenfalls bekam man einen Einblick über die vorherrschenden, zum Teil erschreckenden Geschmäcker der Kollegen.
Mechthild Kayser begrüßte noch einmal ihre kleine Truppe und begann die angefallene Arbeit zu verteilen. Heiner Heller als Benjamin in der Mordkommission bekam den Vorgang um den vermissten Rentner, der einzige aktuelle Fall an diesem Tag und ihres Stellvertreters Roder nicht würdig. Die fehlenden Unterlagen über die bisher durch den Kriminaldauerdienst getroffenen Maßnahmen würden Heller in Kürze über den Botendienst erreichen. Ayse Günher wurde von ihrer Chefin mit einer Anfrage aus den neuen Bundesländern beauftragt. Dort war in Leipzig eine Prostituierte ermordet worden, und man bat um Auskünfte über ähnlich gelagerte Fälle. Sie liebte es, an ihrem Computer die Tatort- und Täterdateien zu durchforsten und nach Übereinstimmungen in den Fällen zu suchen. Mechthild wusste, dass Ayse ein echter Fan von Serienkillern oder besser – und weniger reißerisch ausgedrückt – von Wiederholungstätern war. Obwohl es sie unter Mördern selten gab. Kurt Roder musste sich mit einer Bitte des Bundeskriminalamtes befassen. Das BKA wollte eine Expertise über Ausstattung und Einsatzmöglichkeiten von Observationsfahrzeugen erstellen, und alle Bundesländer waren aufgefordert, ihre Erfahrungen darzustellen. Genau das Richtige für Roder, der es gerne sah, wenn unter einem Papier, das zentral in der Polizeiführung ausgewertet wurde, sein Name stand.
Mit dem Wissen, dass sie sich selbst mit elender Kriminalstatistik zu beschäftigen hatte, entließ Mechthild ihre Kollegen in den Tag. Wenn kein Tötungsdelikt zu bearbeiten war, ging das Leben in der Mordkommission einen beschaulichen Gang. Überstunden konnten abgebummelt werden, endlich war dann Zeit für Weiterbildungen, oder alle konnten mal wieder zum Schießen fahren und die jährlich vorgeschriebenen Übungen ableisten. In solchen Zeiten galt es für Mechthild gegenüber ihren Kollegen großzügig zu sein, was die Ausgestaltung der Dienstzeit betraf. Denn bei Vorliegen eines Kapitalverbrechens änderte sich abrupt alles. Urlaub und Freizeit wurden nicht gewährt. Und wer glaubte, einen Acht-Stundentag zu haben, wurde arg enttäuscht. Solche Haltungen gab es jedoch nicht in der Mordkommission. Wenn es galt, einem Verbrecher habhaft zu werden, scheute niemand Zeit und Mühe, und alles andere wurde zurückgestellt.
Thomas Brandt parkte den gemieteten weißen Lkw vor dem geöffneten Rolltor einer ehemaligen Fertigungshalle in der Bremer Neustadt. Hier hatte ein Betrieb bis vor etwa zehn Jahren Stanz- und Falzmaschinen zur Blechbearbeitung hergestellt. Sie waren pleite gegangen oder hatten den Betrieb verlagert. Das wusste Thomas Brandt nicht. Und es interessierte ihn auch nicht.
Als Partyveranstalter war er stetig auf der Suche nach neuen, ungewöhnlichen Örtlichkeiten, die man in der Szene „locations“ nannte, um den Erlebnishunger seiner jungen Kundschaft immer wieder aufs Neue zu befriedigen.
Das Geschäft war in den letzten Jahren schwerer geworden. Auch andere veranstalteten jetzt Partys, und der Wettbewerb hatte dazu geführt, dass Brandt sich jedes Mal etwas wirklich Neues, Irres ausdenken musste, um es der Konkurrenz zu zeigen. Als er begann, reichten ein paar künstliche Palmen neben einer Cocktailbar in einem alten Keller aus, dazu noch ein paar Lichteffekte und natürlich einer der angesagten Discjockeys der Stadt. Und fertig war die Dschungelparty. Mittlerweile ließ er DJs aus London, New York und Barcelona einfliegen. Jede Party bekam ihr eigenes, gestyltes Image, ein Motto, das von der gesamten, aufwendigen Dekoration und Aufmachung widergespiegelt wurde. Dabei explodierten natürlich die Kosten, und immer weniger blieb für ihn übrig.
Für die Party vom letzten Wochenende hatte er einen „martial-industry-sound“ angekündigt. Dafür hatte er die alte, heruntergekommene Fertigungshalle angemietet. Unter die nicht mehr funktionsfähigen Lastkräne an der Decke der Halle hatte er Gitterkäfige mit Gogo-Girls hängen lassen. Die mit Bikinis bekleideten Mädchen traten im Schweißeroutfit auf. Am Eingang brannten helle Feuer in verrosteten Ölfässern, und der Clou der Party war eine Anlage, die oberhalb der Tanzfläche brennende Gasfontänen mit hohem Druck über die Tanzenden schoss, so dass man beim Tanzen einen heißen Schauer abbekam. Das war alles sehr teuer. Und die Eintrittseinnahmen waren auch nicht mehr so berauschend. Da er sich nicht mehr darüber ärgern wollte, wie viel Geld ihm seine Bedienungen an den Theken klauten, hatte er den gastronomischen Teil seiner Veranstaltungen gegen eine Gebühr an einen örtlichen Caterer vergeben. Aber trotz der Verluste durch Diebstahl fehlte ihm unter dem Strich etwas. Er hatte zwar die Eintrittspreise erhöht, aber es gab Grenzen, deren Überschreitung das Bremer Publikum nicht mehr akzeptieren würde. Um Ausgaben zu sparen, fuhr er nun selbst den Lkw für den Abtransport und packte auch beim Abbau mit an.
Als er in die Halle trat, war nichts mehr von der ausgelassenen Stimmung der Samstagnacht zu spüren. Es roch nach Rauch, Schweiß und abgestandenem Bier. Die bunte Welt des martial-industry-sounds war einer öden, maroden und staubigen Umgebung gewichen. Es war kalt in der Halle, jetzt, da keine Menschenmassen mehr da waren, die sie aufheizten.
Wo während der Party noch buntes Licht von außen durch die Hallenfenster strahlte, fiel der Blick nun auf verrostete Eisenrahmen, durch deren butzenartige Fensteraufteilung ein wild überwucherter Hof zu erkennen war. Es fehlten einzelne Scheiben, einige waren zerbrochen. Die Gitterkäfige waren schon verschwunden. Die beiden Männer der PA-Firma luden ihr Equipment in bereitstehende, rollbare Holzkisten, die Trapeztürme für die Licht- und Gasanlage lagen auseinandergebaut auf dem Hallenboden.
Thomas Brandt sah sich nach den Klapptheken um. Sie standen schon für den Abtransport vorbereitet am Eingang. Er zählte die Zapfanlagen und die Kühltruhen. Nichts fehlte.
In der Mitte der Halle stand der große, schwere Rolltresen der Cocktailbar. Die einzige Theke, die er noch selbst betrieb. Er hatte sie vor wenigen Jahren, als die Geschäfte noch besser liefen, nach seinen eigenen Vorstellungen anfertigen lassen. Sie war aus massivem Holz mit eingebauten Zapfanlagen und Kühlschränken. Der Rolltresen war nicht auseinanderzunehmen und selbst, wenn man die Ware ausgeräumt hatte, richtig schwer. Um ihn zu transportieren, bedurfte es mindestens zweier Männer und eines Lkws mit Hebebühne.
Thomas Brandt winkte zwei seiner Aushilfen herbei, die gerade damit beschäftigt waren, die an den Wänden aufgehängten Ölfackeln abzunehmen. „Los, kommt! Erst mal den Tresen raus. Dann den Kleinkram!“ kommandierte er.
Bereitwillig kamen beide her und lösten die Verriegelungen der Gelenkrollen. Dann drückten sie mit aller Kraft gegen eine Flanke des Tresens, um ihn ins Rollen zu bringen. Da die beweglichen Rollen noch nicht alle in eine Richtung wiesen, stellte sich der Tresen quer, und Thomas Brandt schnauzte: „Dahin, dahin!“ und zeigte dabei auf das Rolltor, wohlwissend, dass sich das Ungetüm erst zurechtlaufen musste. Aber schließlich war er der Chef hier und wollte das auch zeigen. Er stemmte sich mit aller Kraft an eine Ecke des Tresens, um ihn in Fahrt zu bringen, als plötzlich unter ihm der Boden nachgab und der Tresen mit der gegenüberliegenden Ecke in einen Hohlraum einsackte und schief hängen blieb. Im gleichen Augenblick hörte man das Splittern von Holz, und Thomas Brandt schrie auf, als er in eine etwa einen Meter tiefe Versenkung rutschte und auf einem weich gefüllten Plastiksack landete. Holzsplitter und Bruchstücke zerborstenen Estrichs rieselten auf ihn nieder.
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