Viele Kriminalbeamte waren gegen einen Umzug, da sie die fehlende Zentralität der Kaserne bemängelten. Aber in Wahrheit ging es einigen von ihnen nur darum, die guten Einkaufsmöglichkeiten in der Innenstadt nicht zu verlieren. Mechthild Kayser war eindeutig für den Umzug in ein moderneres Gebäude. Gleichgültig, wo es lag. Mord und Totschlag konnte sie an jedem Ort bearbeiten. Sie stellte in ihrem Büro den Computer an und ging auf ihre polizeiinterne E-Mail-Seite. Bemerkenswerte Fälle würden in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht anstehen. Dann hätte man sie schon am Wochenende alarmiert.
Durch das interne E-Mailsystem wurde die Informationsgeschwindigkeit erheblich erhöht, und jeder bekam seine Aufgaben zeitnaher übertragen. Die zu den Vorfällen gehörenden Akten wurden zwar in Papierform erstellt und durch einen Botendienst verteilt, da Richter, Staatsanwälte und Verteidiger sie in verantwortlich unterzeichneter Form einsehen wollten, aber bald würden in das gesamte System elektronische Signaturen integriert und auf diesem Wege Ausdrucke auf Papier enorm reduziert werden. Das glaubten jedenfalls die Einsparstrategen der Haushaltsabteilung. In Wirklichkeit ließ sich jeder jede auch noch so banale E-Mail ausdrucken, um eine sichtbare Grundlage in den Händen halten zu können. Arbeitende Menschen brauchten etwas zum Anfassen. Etwas, woran sie sich halten konnten.
Mechthild Kayser war der Auffassung, dass es in Ermittlungen sowieso immer besser war, mit den damit beschäftigten oder betroffenen Menschen im persönlichen Gespräch zusammenzutreffen. Ein Papier konnte nur erlesen werden, aber im persönlichen Kontakt erhielt man weitaus mehr Hinweise, Gefühlsregungen und andere nonverbale Informationen vermittelt, als es selbst ein Video nicht zustande bringen könnte. Polizeiarbeit war in erster Linie immer eine Arbeit mit Menschen und ihrem individuellen Ausdruck in einem Rahmen von ganzheitlicher Kommunikation.
Viel war am vergangenen Wochenende nicht geschehen. Neben den allgemeinen Mitteilungen über Fahndungen nach gestohlenen Autos, entwichenen Strafgefangenen und verschwundenen psychisch Kranken gab es in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag einen Blitzeinbruch in ein Juweliergeschäft in der Sögestraße, gleich am Anfang der innerstädtischen Fußgängerzone. Die Täter waren mit einem gestohlenen Auto einfach in die Eingangstür gerammt und hatten blitzschnell die Auslagen abgeräumt.
Ganz schön dreist, dachte Mechthild.
Für sie gab es drei Nachrichten, die in ihre Zuständigkeit fielen: Ein kleines Mädchen wurde als vermisst gemeldet. Die nächste E-Mail teilte mit, dass sie unversehrt wiedergefunden wurde. Also doch nichts zu tun. Und die dritte Nachricht bezog sich auf einen Frührentner, der nach einem Restaurantbesuch nicht wieder heimgekehrt war und von seiner Ehefrau vermisst wurde.
Wahrscheinlich ist er bei seiner heimlichen Freundin auf dem Sofa eingeschlafen, dachte Mechthild. Doch sie musste diese Mitteilung trotzdem ernst nehmen. Mit gutem Grund war die Bearbeitung von Vermisstensachen Aufgabe der Mordkommission in Bremen. Häufig wurde ein vermisster Mensch als Opfer eines Kapitalverbrechens aufgefunden.
„Da hatte der Kriminaldauerdienst ja ein ruhiges Wochenende“, sprach Mechthild laut in ihr leeres Büro. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Und von ihren Mitarbeitern war noch keiner zu sehen. Mit der Einführung der Gleitzeit konnte jeder seinen täglichen Arbeitsbeginn selbst festlegen. Allerdings musste er spätestens um neun Uhr auf der Matte stehen. Kontrolliert wurde das durch ein elektronisch gesteuertes Chipkartensystem. Und durch Mechthild selbst. Sie bestand darauf, dass sich ihre Kollegen jeden Morgen bei ihr zu melden hatten, wenn sie ihren Dienst aufnahmen. Auf diesem Weg erlangte sie nicht nur einen groben Überblick über die zu leistenden Dienststunden, sondern erhielt jeden Tag auch einen Eindruck über Stimmung und Verfassung der einzelnen Mitarbeiter der Mordkommission.
Mechthild Kayser beschloss, die Sache mit dem vermissten Rentner an den Jüngsten in ihrer Truppe zu übergeben. KK Heiner Heller war vor kurzem gerade dreißig geworden und vor einem Jahr aus dem Raubkommissariat zu ihr gewechselt. Er wirkte immer noch unreif und hatte etwas Jungenhaftes an sich. Heller hinterließ bei vielen den Eindruck, dass er alles nicht so ernst nehmen würde. Er war noch ledig, ging viel auf Partys und zog an freien Wochenenden durch die Diskos der Stadt, um Frauen aufzureißen. Da er sehr gut aussah und eine sympathische, anziehende Art hatte, war er auf diesem Gebiet sehr erfolgreich. In seiner Arbeit hatte er allerdings noch keine großen Erfolge aufzuweisen, und Mechthild war sich sicher, dass er sich nur zu ihr beworben hatte, um in einem anderen Arbeitsfeld die Gelegenheit zu erhalten, sich profilieren zu können, was ihm im Raubkommissariat nicht vergönnt gewesen war. Aber sie mochte ihn. Seine unbeschwerte Art, sein lockeres Umgehen mit den unschönen und belastenden Dingen ihrer Arbeit, verbesserte die Atmosphäre für alle, auch wenn seine lockeren Bemerkungen an vielen Stellen völlig unpassend waren.
Als Erster meldete sich ihr Kollege Roder mit einem wie immer frustrierten Blick durch den Spalt ihrer halbgeöffneten Bürotür und einem knappen „Moin“ an. KHK Kurt Roder war ein schwieriger Typ. Als einziger Kriminalhauptkommissar in der Mordkommission war er Mechthilds Stellvertreter. Roder war ein unverbesserlicher Macho, hatte Schwierigkeiten, unter der Leitung einer Frau zu arbeiten, und sein Charakter war von unterdrückter Aggressivität und einer spürbaren, schlummernden Gewaltbereitschaft geprägt. Er hatte selbst Ambitionen gehabt, Leiter der Mordkommission zu werden. Er war am längsten hier tätig und hätte sicher auch das Zeug dazu gehabt. Aber durch die vor einigen Jahren begonnene Polizeireform waren die Kommissariatsleitungen höher bewertet und sukzessive durch Kriminalräte ersetzt worden. Und Roder war nicht bereit gewesen, sich für die Ratslaufbahn zu bewerben und sich einer Prüfungskommission zu stellen. Aus welchen Gründen auch immer. Ob er nun Angst gehabt hatte, durchzufallen und abgelehnt zu werden, oder ob er seinen Anspruch auf die Leitung als selbstverständlich ansah, er hatte es jedenfalls nicht getan und war seitdem immer schlecht gelaunt.
Dennoch hatte er auch seine Vorteile und Fähigkeiten, die Mechthild Kayser sehr wohl sah und zeitweise zu schätzen wusste. Roder konnte Verdächtige in einer harten und brutalen Art und Weise verhören, sie bis an die Grenzen der Legalität verbal und durch seine körperliche Präsenz unter Druck setzen wie kaum ein anderer.
Mechthild war überzeugt, dass er, wenn sie nicht dabei war, diese Grenzen ohne Skrupel auch überschritt, um Ergebnisse zu erreichen. Aber bislang gab es keine belegbaren Vorwürfe, die dazu geführt hätten, Roder in seine Schranken zu verweisen. Und solange das so war, musste sie davon ausgehen, dass er sich an die Regeln hielt.
Zusammen mit Ayse Günher trat der junge Heller in ihr Büro. Sie begrüßten sich kurz, und Mechthild erinnerte daran, in zehn Minuten ihre Frühbesprechung machen zu wollen. Sie sollten KHK Roder mitbringen.
Mechthild steckte die ausgedruckte E-Mail über den vermissten Rentner in eine Besprechungsmappe zu den Vorgängen, die noch von Freitag unbearbeitet auf ihrem Schreibtisch lagen, und verließ ihr Büro.
Das Besprechungszimmer der Mordkommission war im Zuge der Personalreduzierung entstanden. Zwischen zwei nicht mehr belegten Büros war die Trennwand entfernt worden und ein Raum entstanden, in dem man jetzt einen großen, rechteckigen Tisch, umrahmt von zwölf Stühlen, unterbringen konnte. Durch die vier nebeneinanderliegenden, hohen Fenster hatten sie einen schönen Blick auf die Wallanlagen der Stadt, die den alten Stadtkern im Mittelalter vor Angreifern schützen sollten. Während sich damals die aufgrund ihrer Gewürzimporte als „Pfeffersäcke“ bezeichneten Kaufleute mit den anderen Honoratioren der Stadt sicher hinter den Befestigungsanlagen verschanzen konnten, wurden die Bewohner der davorliegenden Stadtteile regelmäßig Opfer der Brandschatzung angreifender Truppen.
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