Glücklicherweise hing der schwere Tresen fest. Wenn er ins Rutschen gekommen wäre, hätte er Thomas Brandt zerquetschen können. Nun saß er auf dem Boden und schrie verärgert: „So eine Scheiße!“ Der Schreck saß ihm in den Knochen. Er sah zu seinen Füßen herunter, und ab diesem Zeitpunkt wusste er für sein ganzes restliches Leben, was es hieß, sich wirklich zu erschrecken.
Vom anderen Ende des durchsichtigen Plastiksacks, auf dem er saß, sah ihn im Halbdunkel der Grube eine blonde Frau mit aufgerissenen Augen an. Eine tote blonde Frau. Obwohl er in diesem Moment keinen bewussten Gedanken fassen konnte, war ihm dieser Umstand intuitiv klar. Mit einem markerschütternden Schrei fuhr er hoch und versuchte aus dem Loch zu kommen. Er richtete sich mit einer hastigen Bewegung auf, stemmte sich mit den Händen auf der Kante des Loches ab und wusste genau, dass das Weiche, das er noch unter seinen Füßen fühlte, eine Leiche war, auf der er immer noch stand. Er drückte sich nach oben, rollte sich auf dem Hallenboden ab und sprang sofort auf.
Alle Anwesenden, denen die Sicht auf die Tote versperrt war, starrten ihn verblüfft an. Schlechte Nerven, dachten sie. Dreht gleich durch, wenn mal was schiefgeht!
Thomas Brandt war kreidebleich im Gesicht und zitterte. Noch nie hatte er eine Leiche aus der Nähe gesehen. Und schon gar nicht unter diesen Umständen.
„Roland für Roland 5012 kommen!“
„Hier ist Roland! Bitte 5012!“ antwortete die Einsatzzentrale der Bremer Polizei, deren Rufname vom Wahrzeichen der Stadt, einem steinernen Rolandritter auf dem Marktplatz, herrührte.
„Bitte IDA schalten!“ meldete sich die Stimme von 5012 wieder.
IDA, das Sprachverschlüsselungssystem der Polizei, wurde immer dann verwendet, wenn der polizeiliche Funkverkehr, der theoretisch von jedem Radiobesitzer illegal mitgehört werden konnte, brisante Meldungen enthielt, die nicht für jedermann einfach zugänglich sein sollten.
Der Streifenführer von Roland 5012 fuhr fort: „Es handelt sich um einen Tatort. Eine weibliche Leiche in einem Plastiksack. Fremdverschulden nicht auszuschließen. Fundort ist die Richard-Dunkel-Straße 10a, die ehemalige Halle von Siemer & Behrend. Ich brauche Unterstützung zur Tatortsicherung. Und benachrichtigt die Kollegen von K!“
Die Einsatzzentrale bestätigte die Meldung und erreichte einen Einsatzwagen des Kriminaldauerdienstes, der sich im Stadtgebiet aufhielt und ebenso wie zwei weitere Streifenwagen der Schutzpolizei die Fahrt in Richtung des Leichenfundortes aufnahm. Grundsätzlich war es von großer Wichtigkeit, möglichst schnell eine großzügig bemessene Absperrung eines Tatortes zu veranlassen und alle in der Nähe befindlichen Personen festzuhalten, um Spuren und Zeugenaussagen zu sichern. Während die eingesetzten Streifenwagen unter Wahrnehmung ihrer Sonderrechte mit Blaulicht zum Fundort der Leiche brausten, schrieb Mechthild Kayser noch immer Zahlenschlüssel in grün- und blauumrandete Kästchen. Als ihr Telephon klingelte, war sie dankbar für die kleine Ablenkung.
Noch während der Beamte der Einsatzzentrale in knappen Worten die für sie erforderlichen Fakten übermittelte, schob sie den nervenden Papierkram beiseite und machte sich ihre ersten Notizen. Dann legte sie auf und drückte die Taste für die Konferenzschaltung an ihrem Telephon. Bei all ihren Mitarbeitern klingelte es nun gleichzeitig mit einem besonderen Ton, der darauf hinwies, dass eine Nachricht erster Priorität auf dem Display abzulesen war. „Einsatz! Sofort Lagebesprechung!“
Mechthild schnappte sich ihren Notizblock und eilte zum Besprechungszimmer. In Kürze waren alle versammelt, bis auf Heller, der nach dem vermissten Rentner suchte.
Kurz und knapp gab Mechthild die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher hatte, ihren Mitarbeitern bekannt. „Fund einer weiblichen Leiche. Fremdverschulden nicht auszuschließen. Identität unbekannt. Fundort in der Richard-Dunkel-Straße 10a in einer leerstehenden Fabrikhalle. Die Kollegen der Schutzpolizei sind vor Ort. Die Absperrung steht. Zeugen werden vor Ort festgehalten.“
Sie blickte auf ihre Kollegen. Roder saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Arme verschränkt. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Ganz anders bei Ayse Günher. Sie wirkte aufgeregt und voller Einsatzfreude.
Mechthild Kayser sah kurz auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie schrieb die Zeit auf ihren Block und sann dann über ihre zu treffenden Maßnahmen nach. Gerade Roder brauchte eine klare Ansprache, sonst wurde er bockig. Ayse würde auch ohne ihr Zutun wissen, was im ersten Angriff zu unternehmen sei. Aber Mechthild war die Chefin und hatte hier das Sagen. Sie musste jetzt präzise Aufträge verteilen.
„Herr Roder, Sie informieren den Erkennungsdienst und fahren beim ED mit. Wir haben nur einen Wagen. Der andere ist mit Heller unterwegs. Informieren Sie auch die Gerichtsmedizin und sorgen Sie dafür, dass die vor Ort erscheinen!“ Dann wandte sie sich Ayse Günher zu. „Du fährst mich! Am Tatort nimmst du dir dann zuerst alle Zeugen vor. Sprich vorher mit den schon eingetroffenen Kräften, ob Personen sich schon entfernt haben und ob Personalien hinterlassen wurden. Frag sie nach Auffälligkeiten!“ Sie überlegte noch einen Moment, und mit einem „Los geht’s!“ hob sie die kurze Lagebesprechung auf.
Als Mechthild auf dem Innenhof des Polizeihauses in ihren Dienst-Mercedes einstieg, hatte Ayse gerade das mobile Blaulicht mit dem Magnetfuß am Wagendach festgeklickt. Sie fuhr in zügiger Fahrt mit eingeschaltetem Blaulicht von der Buchtstraße links über die Straßenbahnschienen und versuchte so den Weg in die Neustadt abzukürzen. Mechthild hatte währenddessen ihr Funkgerät eingeschaltet und ihre Einsatzfahrt der Zentrale gemeldet. Ayse legte ein rasantes Tempo vor, und obwohl Mechthild wusste, dass ihre Freundin ein Auto wie ein Rallyemeister beherrschen konnte, war es ihr doch etwas zu riskant, so zu brausen.
„Ayse, bitte etwas langsamer! Wir wollen heil ankommen. Die Leiche kann uns nicht mehr weglaufen!“
Ayse reduzierte wie befohlen das Tempo und kam trotzdem überraschend gut durch den Verkehr. Sie überquerten die Weser auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke und gelangten in die Friedrich-Ebert-Straße. Dann passierten sie bei roter Ampel vorsichtig die vielbefahrene Neuenlander Straße. Ein innerstädtisches Hinweisschild zeigte nach links in Richtung Flughafen. Rechts ab ging es hier zur Richard-Dunkel-Straße.
Ayse schaltete das Blaulicht aus. Beide Frauen hielten Ausschau nach Hausnummern an den größtenteils leerstehenden Gebäuden dieser ehemaligen Gewerbeansiedlung. So wie Siemer & Behrendt waren hier auch andere Betriebe weggezogen, und weitere Hallen moderten vor sich hin. Ayse kannte die Gegend. Sie hatte sich im zurückliegenden Herbst von einem Gotcha-Club überreden lassen, auf dieser Industriebrache an einem Häuserkampf teilzunehmen. Das war zwar nicht erlaubt, aber Spaß gemacht hatte es ihr trotzdem. Die vielen bunten Farbkleckse an den Wänden der Hallen zeugten noch davon.
„10a muss weiter hinten von der Straße weg liegen“, erinnerte Mechthild ihre Fahrerin. Langsam bewegten sie sich weiter vorwärts, und dann sahen sie etwa zweihundert Meter entfernt ein Blaulicht blitzen.
Ayse bog ab auf einen welligen, asphaltierten Weg, der zu beiden Seiten von Maschendrahtzaun begrenzt wurde. Ein Eingangstor hatte es mal gegeben, aber an den verrosteten Türangeln konnte man erkennen, dass es schon lange fehlte. Sie fuhren an einer ehemals weißen Halle vorüber, deren Putz an vielen Stellen von den Wänden gebrochen war und rote Backsteine zum Vorschein kommen ließ. Scheiben befanden sich nicht mehr in den Fenstern. Der Weg machte jetzt eine Rechtskurve, und sie gelangten auf einen grasüberwucherten Vorplatz, der mal als Parkplatz gedient haben musste. Ein Blechschild auf einem abgebrochenen Balken wies früher einmal den Stellplatz für die Geschäftsleitung aus. Vor der hier befindlichen Halle waren mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei abgestellt. Neben einem geöffneten Rolltor stand ein weißer Lkw mit heruntergelassener Hebebühne.
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