»Nicht nur, es ist ...«
In diesem Moment begann Fiora nach ihrer Mutter zu rufen. Yara ging zu ihr hinüber.
»Lange hast du ja nicht geschlafen. Willst du dich nicht wieder hinlegen?« Das Kind schüttelte energisch den blonden Lockenkopf. »Ich bin nicht mehr müde.«
»Na schön. Meinst du, dass du weiterreiten kannst? Laura hat ganz in der Nähe einen gemütlichen Rastplatz gefunden. Sogar eine Wasserstelle gibt es dort.«
Fiora antwortete nicht gleich. Sie hatte ihre blauen Augen auf einen Punkt hinter Yara gerichtet, den sie geistesabwesend fixierte. Nach einer Weile stand sie auf und sagte:
»Ich möchte weiterreiten.«
Yara sah sie leicht amüsiert an und nahm sie in die Arme. Sie war solche Momente von ihrer Tochter gewohnt, diese entrückten Sekunden schienen eine besondere Wichtigkeit für sie zu haben. Neugierig hatte Yara sie einmal gefragt, was dabei in ihr vorging, aber das Kind hatte sie nur erstaunt angesehen und nicht verstanden, was sie meinte. Yara verzichtete auf weitere Nachforschungen und rechnete das Phänomen den anderen ungelösten Rätsel der Kindheit hinzu.
Wie immer nach solchen Augenblicken wirkte Fiora auch diesmal sehr klar und bestimmt. Als gäbe es keine Nachwirkungen des Schlafes, machte sie sich von Yara los und ging zielstrebig auf eines der Pferde zu.
»Kann ich mal wieder auf dem Schwarzen reiten?«
»Sicher, Fiora, erwiderte Laura. »Aber lieber erst morgen, sonst müssen wir für den kurzen Weg bis zu dem Rastplatz noch alles umpacken.«
Fiora nickte, näherte sich dem braunen Pferd und streichelte dessen gesenkten Kopf. Laura packte Decke und Wasserflasche zusammen, dann hob sie Fiora vor Yara auf das Pferd.
»Auf geht's, das letzte Stück für heute.«
»Müssen wir noch viele Tage reiten?« fragte Fiora, als sie wieder unterwegs waren.
Ich weiß es nicht,« antwortete ihre Mutter. »Wir wissen nicht, wo der Ort ist, zu dem wir wollen.«
»Warum ist er dann so weit weg?«
Laura, die jetzt neben den beiden ritt, sah sie überrascht an.
»Du hast recht, es könnte auch ganz nahe sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast manchmal merkwürdige Einfälle.«
Doch Fiora schien schon vergessen zu haben, um was es ging. Ihre Gedanken wanderten schon ganz woandershin, und den Rest des Weges erzählte sie von Erlebnissen mit anderen Kindern des Stammes, wobei Yara schmerzlich bewusst wurde, wie sehr ihrer Tochter diese Kinder fehlten. Die Trennung von dem Stamm, wenn es auch nur eine vorübergehende war, hinterließ bei Fiora vielleicht drastischere Auswirkungen als für sie. Doch das Kind hatte schon wieder das Thema gewechselt und sprach nun von ganzen Bergen von Spielsachen, eine Phantasie, die es in den letzten Tagen des Öfteren ausgeschmückt hatte. Yara hielt es für eine Kompensation des Verlustes ihrer Freundinnen und Freunde, wunderte sich allerdings über die Detailgenauigkeit von Fioras Schilderung. Fiora musste einiges aus irgendwelchen Erzählungen aufgeschnappt haben, denn manche der von ihr beschriebenen Spielsachen gab es in ihrem Stamm gar nicht.
Laura hatte nicht übertrieben. Der Ritt dauerte in der Tat nicht lange, und schon am frühen Nachmittag erreichten sie die von ihr entdeckte Stelle.
»Seht ihr, wie eine Oase!« rief Laura schon aus, als in der Ferne die ersten Bäume zu erkennen waren.
Yara schmunzelte angesichts dieser Übertreibung. Denn als sie näherkamen, entpuppte sich die »Oase« als eine Ansammlung niedriger Bäumchen mit einer Art Tümpel in der Mitte. Trotzdem grenzte es fast an ein Wunder, in dieser öden Gegend auf solch einen Ort zu treffen.
Zumindest Fiora war ebenso begeistert wie Laura. Nachdem Yara untersucht hatte, ob die Wasserstelle irgendwelche Gefahren barg, zog sich das Kind aus und stürzte sich lachend vor Freude in das kühle Nass.
»Geh nicht zu weit hinein, dort wird es tiefer,« warnte ihre Mutter sie. »Ich kann ja schwimmen!« rief Fiora zurück. »Guck mal, hier sind Fische!«
»Na, die ist erst einmal beschäftigt,« meinte Laura augenzwinkernd. »Du hast wirklich ein schönes Kind.«
Yara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es kam selten vor, dass Laura Komplimente vergab und noch seltener gerade an sie. Es machte sie etwas verlegen.
Die beiden Frauen sattelten die Pferde ab und führten sie zur Tränke.
Auch die Wasserflaschen wurden nachgefüllt. Dann begannen sie damit, ein gemütliches Lager aus Decken und Schlafsäcken zu bereiten.
»Jetzt können wir uns einmal richtig ausruhen,« atmete Yara auf. »Genau das habe ich nach den anstrengenden Tagen nötig. Und für Fiora ist es auch gut.«
Laura brummte nur dazu und drehte sich auf die andere Seite. Sie hatte sich gleich auf ihrer Decke ausgestreckt und war schon halb eingeschlafen.
Wie friedlich die Wächterin jetzt aussieht, ging es Yara durch den Kopf. Und wie verschieden wir doch voneinander sind - innerlich wie äußerlich. Es ist kaum zu glauben, dass wir einmal aus der gleichen Person hervorgegangen sind.
In Augenblicken wie diesem versuchte sie, die Motive nachzuvollziehen, die ihre Ursprungs-Person Larya dazu getrieben hatten, ihre Selbst-Duplizierung vorzunehmen. Natürlich waren ihr die Gründe bekannt, schließlich besaß sie - ebenso wie Laura - alle Erinnerungen Laryas. Doch der Gedanke von zwei Seelen in einem Körper war nur ein hohler Begriff für sie. Was ihr fehlte, war der gefühlsmäßige Bezug. Der Drang, der Larya beherrscht und sie zu diesem Experiment getrieben hatte, war ihr nicht nachvollziehbar. Vielleicht erging es Laura in dieser Hinsicht besser, denn sie schien die extrem emotionale Seite ihrer Ursprungs-Person übernommen zu haben.
Yara hingegen wusste, dass sie eher in logischen, vernünftigen Bahnen dachte und handelte. Deshalb fiel es ihr auch so schwer, ihr früheres Leben als Larya zu reflektieren. Sie war als ganze Person »geboren« worden, ihre davor liegende Vergangenheit bestand nur in Erinnerungen. Und wie konnte sie es anstellen, sich an Gefühle zu erinnern?
Jede Selbst-Duplizierung hatte zwei Personen im gleichen Alter wie die Ursprungsperson zum Resultat. Sie teilte also eine Vergangenheit mit Laura, die sie beide nicht als eigenständige Personen durchlebt hatten. Und trotz der gleichen Vergangenheit hatte der Selbst-Duplizierungs-Prozess, die »Geburt« , zwei ganz unterschiedliche Personen hervorgebracht, zwei Facetten der Persönlichkeit Laryas. Inwieweit war sie also wirklich eine ganze Person und nicht nur ein Teil einer früheren? Und obwohl sie darüber froh war, dass zwei Frauen aus dem Ritual geboren wurden, fragte sie sich, ob auch dieser Umstand nur Zufall war. Welche Ursachen führten zu welchen Ergebnissen?
Angesichts solcher Paradoxien und unerklärlicher Vorgänge begann Yaras analytischer Verstand sich im Kreise zu drehen. Sie wusste, dass das mysteriöse Ritual der Selbst-Duplizierung erklärbar war, nur dass diese Erklärung für ihre rationalen Gedankengänge nicht fassbar war.
Der Anstoß zu ihrer selbst gewählten Aufgabe als Chronistin stammte im Übrigen gerade von diesem geheimnisvollen Brauch. Sie hatte herausfinden wollen, welchen Sinn dieser Ritus einmal für den Stamm gehabt hatte. In der Gegenwart war er zu einem selten benutzten rituellen Experiment verkommen. Dazu hatte sie sich sowohl in die schriftliche als auch die mündliche Überlieferung der Stammesgeschichte vertieft, aber die Quellen waren so alt, dass sie bisher nichts und niemanden gefunden hatte, der ihr in dieser Hinsicht weiterhelfen konnte. Alles, was sie zutage gefördert hatte, war ein Sammelsurium an widersprüchlichen mystisch-verklärten Geschichten. Es war unmöglich festzustellen, welche realen Tatbestände sich darin verbargen.
Im Verlauf dieser Arbeit hatte sie gemerkt, wie sehr es sie faszinierte, historischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, fast Vergessenes auszugraben, Theorien über bestimmte Abschnitte der Stammesgeschichte aufzustellen und alles niederzuschreiben, um es für andere ebenfalls zugänglich zu machen. dass bisher kein fortlaufendes Geschichtswerk existierte, machte ihre Aufgabe nur umso interessanter.
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