1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Seine Gedanken schweiften ab, und er fragte sich, was er tun sollte, wenn kein Abgesandter der Dorfgemeinschaften erscheinen würde. Sollte er weiterreiten bis in eine der Städte, zu denen die Funkverbindung abgerissen war? Würde er sich dort überhaupt nicht zurechtfinden? Irgendwo mussten sich schließlich Anhaltspunkte für die ungewisse Gefahr finden lassen, aber konnte er als einzelner etwas aufspüren, von dem er nicht wusste, um was es sich handelte? Er scheute auch davor zurück, sich hier an einen anderen Tisch unter Fremde zu begeben und auf diese Weise vielleicht etwas herauszubekommen. Er hielt sich nicht gern in Menschengruppen auf, auch in Farewell war er solchen Ansammlungen aus dem Weg gegangen. Feste und andere Zusammenkünfte hatten ihn eher abgeschreckt. Gerade in seinen Kontaktschwierigkeiten mit Unbekannten merkte er, wie schwer es ihm fiel, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen und wie wichtig für ihn der Schutz einer vertrauten Umgebung gewesen war. Die Stunden verrannen, Gäste kamen und gingen und seine Stimmung gestaltete sich immer trübsinniger. Er bestellte ein Bier nach dem anderen, aber das vertiefte nur seine Melancholie. Am Nachmittag war er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, das Warten zermürbte ihn.
Als die schwere Tür hinter einem weiteren Neuankömmling ins Schloss fiel, hob er nur noch automatisch den Kopf, doch diesmal stieß seine Sondierung auf Übereinstimmung.
Augenblicklich war er wie elektrisiert und schüttelte die Benommenheit von sich ab. Die Frau, die in der Tür stand, schickte einen musternden Blick durch den Raum. Zardioc schalt sich einen Narren, dass er angenommen hatte, er würde einem Mann begegnen. Die Möglichkeit, eine Frau zu treffen, hatte er gar nicht in Betracht gezogen, obwohl seine Gesprächspartnerinnen aus den matrilinen Dorfgemeinschaften immer Frauen gewesen waren. Das patriarchale System Farewells saß tiefer, als er es für möglich gehalten hatte. Handfeste Schwierigkeiten waren abzusehen.
Die Frau war hochgewachsen und schlank, er schätzte ihr Alter auf ungefähr 30 Jahre. Ihr feines Gesicht mit den hervorstechenden grünen Augen zeigte einen Anflug von Abgespanntheit und Müdigkeit, die kurzen silbergrauen Haare mit den schwarzen Strähnen standen wirr von ihrem Kopf ab. Sie trug rötliche Lederkleidung, die ihre Figur betonte, und auf der das Doppelaxt-Symbol, das Zeichen aller matriarchalen und matrilinen Gemeinschaften deutlich erkennbar war. An ihrem Gürtel hing eine langläufige Techno-Waffe.
Zielstrebig ging sie auf Zardiocs Tisch zu, schließlich war er nach einer Beschreibung nicht zu übersehen. Der Kartenmagier schluckte und seine Hände umklammerten krampfhaft das Bierglas.
»Du bist Zardioc, nicht wahr?« begrüßte sie ihn und setzte sich ihm gegenüber.
Er nickte.
»Ich heiße Sikrit. Firlin schickt mich. Du musst mein spätes Ankommen entschuldigen, aber ich wurde aufgehalten. Ich bin geritten, so schnell es ging.«
»Natürlich,« murmelte er und musste seine Augen abwenden. Ihr Anblick verwirrte ihn ungeheuer.
Sikrit winkte dem Wirt und bestellte etwas zu essen für sich und ein Zimmer für die Nacht.
»Ich bin richtig ausgehungert und habe kaum geschlafen, weil ich fürchtete den verabredeten Zeitpunkt zu verpassen.«
Kurz darauf brachte der Wirt das Gewünschte sowie einen Zimmerschlüssel. Sikrit aß mit großem Appetit, und Zardiocs Aufgeregtheit legte sich langsam. Je ruhiger er wurde, desto mehr spürte er die Ausstrahlung Sikrits: viel Stärke und Selbstbewusstheit, aber auch Wut und Traurigkeit. Als er genauer hinsah, erkannte er Flecke auf ihrer Kleidung und Verletzungen in ihrem Gesicht.
»Was ist dir zugestoßen?« fragte er unbehaglich.
»Ein Hinterhalt, gleich als ich die Grenze zu einem der Magischen Gebiete überschritten hatte. Ich war zwar vorsichtig, habe aber nicht damit gerechnet, weil ich nichts gegen die Menschen dort im Schilde führte. Ich weiß nicht, worauf sie es abgesehen hatten. Es war gespenstisch.«
Die Erinnerung ließ sie zusammenzucken.
»Ich kämpfte gegen Unsichtbare ... gegen Schatten und Geräusche. Sie haben mich ziemlich zugerichtet, doch zum Schluss hatte vor allem Khanur unter den Attacken zu leiden. Ich konnte die Angreifer zurückhalten, bis ich mein Flügelpferd erreicht hatte, dann stürzten sie sich auch auf das Tier. Wir haben die Grenze gerade noch erreicht, fast wäre er verblutet.«
Sikrit senkte den Kopf, ihre Stimme zitterte vor Erregung und Erschöpfung. Zardioc ließ die Information auf sich einwirken. Er hatte zwar von den Magischen Ländern im Osten gehört, aber nicht von Magischen Gebieten in diesem Teil der Erde. Seine Unwissenheit war ihm unangenehm, er hatte keinerlei Vorstellung davon, was in diesen Magischen Zonen vor sich ging. Dafür besaß er ein umso genaueres Bild von einem Flügelpferd - wenn auch nur in seiner Phantasie. Traumgeschöpfe, die es unmöglich in der Realität geben konnte, sie waren in Farewell Bestandteile von Kindermärchen. Und diese Frau ritt tatsächlich eine dieser Sagengestalten! Vielleicht gehörten sie in den Dorfgemeinschaften zum täglichen Leben oder diese Tatsache unterstrich nur noch die Bedeutung von Sikrits Auftrag.
»Kann es sein, dass der Überfall auf dich etwas mit den rätselhaften Vorkommnissen zu tun hat, die uns hierher geführt haben?«
»Ich habe auch schon daran gedacht, aber bedeutet das nicht, dass jemand mich von diesem Treffen abhalten wollte? Dazu müsste es einen Spion bei uns geben, und außerdem unterstellen wir damit, dass diese mysteriöse Gefahr wirklich existiert. Doch davon bin ich immer noch nicht überzeugt, obwohl es noch mehr Anzeichen gibt als Leandas Funkunterbrechungen. Der Überfall kann aus völlig anderen Gründen erfolgt sein. Wer weiß schon etwas über die Motive der Bewohner Magischer Bereiche?«
»Um welche anderen Anzeichen handelt es sich, von denen du sprichst?« Zardioc war begierig, weitere Fakten und Vermutungen zu hören, doch Sikrit legte den Finger auf die Lippen.
»Lass uns morgen darüber reden. Ich fühle mich nicht mehr in der Lage, ein konzentriertes Gespräch zu führen, außerdem haben hier zu viele Leute zu lange Ohren. Ich werde auf mein Zimmer gehen und mich sofort schlafen legen. Hast du dich hier auch einquartiert?«
Zardioc bestätigte das, und Sikrit schlug vor, am nächsten Morgen auf sein Zimmer zu kommen und dort alles weitere zu besprechen. Der Kartenmagier war enttäuscht, dass er seine Ungeduld zügeln musste, aber er verstand, dass Sikrit vor allem Schlaf benötigte. Seine Augen folgten ihr, als sie die Treppe hinaufstieg, aber da war er nicht der Einzige.
3. Kapitel: Die Frauen (I)
Hier weiter im Norden des Kontinents Uskamera herrschte ein gemäßigteres Klima vor. Die Sonne stach nicht so scharf vom blauen Himmel herab, wie es in den zentralen Stammesgebieten der Fall war, und manchmal wurde sie sogar von träge vorüberziehenden weißen Wolken verdeckt. Auch der heiße, trockene Wüstenwind, der in den südlichen Regionen seinen Ursprung hatte, war seit einigen Tagen nicht mehr zu spüren. Trotzdem war das Land karg, nur kleine Rinnsale, die im Herbst und Winter zu Bächen anschwellen mochten, kreuzten ihren Weg, und sie mussten aufpassen, sich die Wasservorräte gut einzuteilen.
Yara war froh, dass die Hitze nachgelassen hatte, besonders Fiora hatte sehr darunter zu leiden gehabt, nachdem sie die bewaldeten Gebiete hinter sich gelassen hatten. Die bekannten Wege und Oasen, die den Nomadenstämmen als Orientierung dienten, waren ebenfalls längst hinter ihnen zurückgeblieben. Sie waren auch schon lange nicht mehr auf andere umherziehende Stämme gestoßen.
Yara fragte sich, warum diese Gegend so wenig besiedelt war, mit etwas Mühe würde das Land gut bearbeitet werden können, das Wetter war jedenfalls idealer dafür als in den Zentralregionen. Sie als Chronistin hätte eigentlich am ehesten eine Antwort auf diese Frage wissen müssen, aber derartige Zusammenhänge blieben auch ihr bisher verborgen. Vielleicht konnte sie ihr Wissen erweitern, wenn sie erst mal ihr Ziel erreicht hatten - wenn sie es denn jemals erreichten und es nicht nur ein Hirngespinst ihrer Wünsche darstellte, wie sie manchmal befürchtete.
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