Es war schwierig, mit den häufig wechselnden Stimmungen umzugehen. Doch Yara hatte sich daran gewöhnt, ihr eigenes ruhig-ausgeglichenes Temperament erwies sich als passender Ausgleich, das Lauras verschiedene Gesichter akzeptieren konnte. Beide Seiten gehörten zu Laura, schufen ihre Persönlichkeit erst, und diese Persönlichkeit war es, die Yara so sehr mochte.
Yara legte den Finger auf ihre Lippen, und ihre Selbst-Schwester verstand sofort. Ihre braunen Augen entdeckten das schlafende Kind und sie schluckte die lauten Worte, die sie ohne Zweifel auf der Zunge hatte, hinunter. Yaras Blicke folgten ihrer schlanken Gestalt, die jetzt in der ärmellosen Jacke und der kurzen Jeans-Hose geschmeidig von ihrem Pferd sprang.
»Eine Decke,« flüsterte Yara ihr zu, als sie nahe genug herangekommen war. Laura machte noch einmal kehrt und holte eine der zusammengerollten Decken von ihrem Pferd. Nachdem sie sie im Schatten ausgebreitet hatte, nahm sie Fiora von Yaras Schoß und bettete das Mädchen vorsichtig darauf.
Yara stand auf, streckte sich und klopfte den Sand von ihrem langen Rock. Die beiden Frauen gingen zusammen ein paar Schritte weiter.
»Du wirst es kaum glauben,« sprudelte Laura hervor. »Nur ein kleines Stückchen weiter habe ich einen idealen Rastplatz für uns gefunden: eine Anzahl verkrüppelter Bäume, die aber ausreichend Schatten spenden und sogar ein kleines Gewässer, an dem die Pferde trinken können.«
Yara atmete auf. »Das ist endlich mal eine gute Nachricht.« Sie legte ihrer Selbst-Schwester einen Arm um die Schulter und strich ihr durch das dunkle krause Haar. »Es ist aber trotzdem besser, wenn ich Fiora hier zunächst weiterschlafen lasse. Anschließend können wir ja zu dieser Stelle reiten und eventuell die Nacht über dort bleiben.«
»Du meinst also, wir reiten heute nicht mehr weiter?«
Laura sah sie skeptisch von der Seite an.
»Ja. Ich möchte es nicht so gern. Ich fühle mich ziemlich müde und ausgepumpt .«
»Das sehe ich. Vielleicht ist es auch ganz gut, einmal eine längere Pause einzuschieben. Da wir kein genaues Ziel haben, ist es eigentlich unnötig, immer den ganzen Tag im Sattel zu sitzen.«
Yara nickte. Genau hier lag die entscheidende Schwachstelle ihrer Unternehmung: Sie kannten nicht einmal den Zielpunkt ihrer Reise. Es existierten zwar vage Gerüchte über die Position des Orakels, aber außer der Himmelsrichtung Norden gab dieses Gerede wenig her. Andererseits trieb sie die Unheil verkündende Ausstrahlung vorwärts. Sie hatte sich eher verstärkt als abgeschwächt.
Lauras Krauskopf legte sich auf ihre Schulter.
»Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Schwester. In diesem Fall helfen sie uns bestimmt nicht weiter. Wir wussten schließlich von Anfang an, auf was wir uns einlassen.«
Natürlich hatte sie auch damit recht, aber es war Yara unmöglich, ihre Gedanken einfach abzuschalten. Immer wieder kreisten sie um das gleiche Problem. Was war die Ursache für diese unbehagliche Ausstrahlung, die sie beide empfingen? Und wieso waren sie die einzigen im Stamm, die davon etwas gespürt hatten?
Die beiden Frauen setzten sich einige Meter von Fiora entfernt ebenfalls in den Schatten.
»Du bist eine unverbesserliche Grüblerin,« warf Laura ihrer Selbst-Schwester nicht zum ersten Mal vor. »Aber deine Gedanken drehen sich im Kreise. Es ist wirklich reiner Zufall, ob wir das Orakel finden oder nicht.« »Gerade davon bin ich nicht überzeugt,« antwortete Yara. »Ich komme immer wieder darauf zurück, dass ich vielleicht etwas übersehen habe. In den alten überlieferten Schriften verbirgt sich vieles hinter der Oberfläche, das nicht leicht zu deuten ist. Außerdem ist einiges in einer Sprache verfasst, die ich nicht entziffern konnte. Ich vermute, es handelt sich dabei um eine Art künstlicher Geheimschrift, deren Schlüssel ich nicht kenne. Und da sich seit Jahrzehnten niemand um diese Schriften kümmert, weil ihre angeblichen Lehren Bestandteile unseres Zusammenlebens geworden sind, ist dieser Schlüssel wohl für immer verloren gegangen. Nur eines geht ganz sicher daraus hervor: früher haben Angehörige unseres Stammes wie auch anderer Stämme regelmäßig Ausflüge zum Orakel unternommen, um es um Rat zu bitten. Ich frage mich, warum dann die Position nicht genauer angegeben ist, da sie doch kein Geheimnis war. Es ist auch kein Grund angegeben, weshalb das Orakel seit ungefähr einem Jahrhundert dann plötzlich nicht mehr befragt wurde.«
»Vielleicht war eine Positionsangabe unwichtig, weil alle wussten, wo das Orakel zu finden war.«
»Nein, nein. Andere Orte sind auch genau beschrieben, obwohl der ganze Stamm sie kennt.«
»Hast du denn nicht die Alten gefragt? Sie müssten sich doch noch daran erinnern .«
»Eben nicht. Das ist ja so merkwürdig daran. Einige von ihnen waren noch selbst dort gewesen und konnten weder eine Ortsbeschreibung geben, noch wussten sie, was das Orakel darstellt und was sie dort erlebt haben. Sie waren mir gegenüber recht kurz angebunden, als wollten sie keine unliebsamen Erinnerungen hervorholen. Ich vermute sogar, dass dort Dinge geschehen sind, die sie erschreckt haben, und aus diesem Grund die Reisen zum Orakel eingestellt wurden.«
»Möglicherweise wollten sie es auch ganz einfach dir persönlich nicht sagen, der alten Schnüfflerin.«
Yara sah sie traurig an. Ja, sie wusste wohl, dass sie hinter vorgehaltener Hand so bezeichnet wurde. Seit einigen Monaten schien niemand im Stamm mehr die Aufgaben einer Chronistin für wichtig zu halten. Schlimmer noch, es war eine Atmosphäre von Abneigung und Ablehnung ihr gegenüber entstanden, die sie sich logisch nicht erklären konnte. Laura hatte etwas Ähnliches zu spüren bekommen. Hing diese Entwicklung mit ihrer Selbst-Duplizierung zusammen? Doch seit der Zeremonie waren fast sieben Jahre vergangen, und niemand hatte damals großes Aufheben darum gemacht. Außerdem hatte es zwei weitere Selbst-Duplizierungen während dieser Zeit gegeben. Nein, die Gerüchte und geflüsterten Abfälligkeiten hatten erst vor kurzem eingesetzt. Selbst-Duplizierungen waren nicht erwünscht, weil sie angeblich Unruhe in die feste Stammesordnung brachten, doch sie wurden als Teil ihres Lebens geduldet, denn schließlich zeichnete sich ihr Stamm durch diese einzigartige Fähigkeit vor allen anderen aus.
»Ich habe den Verdacht,« fuhr Yara in ihren Überlegungen fort, »dass die unheilverkündende Ausstrahlung, die uns zum Verlassen des Stammes bewog, mit unserer Ausgrenzung aus dem Stamm zusammenhängt.«
»Wie kommst du auf diese Idee?«
»Nun einmal fällt beides zeitlich ziemlich genau zusammen, und dann habe ich den Eindruck, dass der Stamm in den letzten Monaten noch ... lethargischer geworden ist, einen Antrieb zu einer Weiterentwicklung vermisse ich schon seit vielen Jahren.«
»Damit könntest du recht haben,« stimmte Laura ihr zu. »Ich habe noch die dauernde Litanei in den Ohren, dass wir doch stolz sein können auf das, was der Stamm darstellt und wie weit wir es gebracht haben. Jetzt sei die Zeit des Ausruhens von vergangenen Strapazen gekommen, jetzt könnten wir die Früchte ernten, die wir uns durch lange Entbehrungen verdient hätten ... und was der Sprüche mehr waren.«
»Gegen ein Ausruhen ist ja nichts einzuwenden, aber wenn es sich dabei um ein zur Ruhe setzen, um ein Stehenbleiben handelt, befinden wir uns in einer Sackgasse. Gebräuche und Gewohnheiten verselbstständigen sich, haben zwar keinen Sinn mehr, bilden aber insgesamt einen festgefügten Alltag, der eine trügerische Sicherheit bietet. Und jegliche Neugier und Kreativität wird dann zu einer Gefahr für diese Sicherheit.«
»Stimmt genau. So wie unser Verhalten den Männern gegenüber, das nur durch Traditionen und überkommenen Regeln gerechtfertigt wird.«
Yara musste lachen. »Nun bist du doch wieder auf dein Lieblingsthema gekommen, nur um meinen Redefluss zu stoppen.«
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