Yara rückte etwas näher an ihre Selbst-Schwester heran.
»Ja, natürlich. Aber warum spüren es andere nicht? Es fühlt sich an wie etwas unsagbar Fremdes, etwas, das nicht in diese Welt gehört - oder nicht in diese Zeit. Manchmal überfallen mich Visionen von grauen Gesichtern und runzligen Händen, die sich aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart strecken, als wollten Töte ihre Gräber verlassen und längst vergangene Zeiten heraufbeschwören.«
Laura zuckte zusammen, ihr Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen.
»Dann begegnen sie dir also auch, diese Alpträume. Schreckensbilder, alt und brüchig, denen von irgendwoher neues Leben eingehaucht wird. Was ist das, das uns aus der Vergangenheit einzuholen versucht und Schrecken verbreitet, die unsere Welt längst überwunden hat?«
»Hat sie das?« flüsterte Yara. »Hat sie das wirklich? Ist die Erde so gut und friedlich, weil wir alles Böse aus ihr verbannt haben? Oder war es vielleicht ein Fehler, das Böse zu vertreiben, weil es zum Guten gehört wie der Schatten zum Licht? Nein, ich glaube, wir haben es nur vergessen, beiseite gelegt, und genau darauf hat es gewartet, denn das gab ihm Zeit, seine Kräfte zu sammeln und wachsen zu lassen. Und es wächst sowohl außerhalb von uns als auch in uns selbst. Wenn wir es erkennen könnten, könnten wir es bekämpfen, es sei denn, es ist dann schon zu spät. Doch an der Erkenntnis hindert uns der Mangel an Erfahrung, der Schlaf des Vergessens hat uns eingelullt.
Schließlich war die Erde nicht immer so, wie sie sich uns heute darstellt mit ihren unzähligen Lebensgemeinschaften, die miteinander Ideen austauschen und nebeneinander existieren können. Aber das ist nur ein Trugbild. Aus dem Nebeneinander ist ein Für-sich-selbst geworden, wie schnell kann ein Gegeneinander daraus erwachsen. Wir haben uns um niemand anders mehr gekümmert, und jetzt kümmert sich etwas um uns. Wir waren zu selbstzufrieden, jahrelang, vielleicht jahrzehntelang, haben nur das Wohl des Stammes im Auge gehabt, nichts anderes hat uns interessiert. Und was ist aus dem Stamm geworden?«
»Aber es ist undenkbar, dass sich die Zeiten wiedeholen. Die Vergangenheit ist vorüber, sie kann nicht wieder entstehen.«
»Warum nicht? Geschichte ist kein feststehender Ablauf von Ereignissen von primitiver Barbarei zum friedlichen Paradies, wie viele das zu glauben scheinen. Viele meinen sogar, das Patriarchat gehöre der Vergangenheit an, obwohl es genügend Gegenbeispiele in der heutigen Zeit gibt.
Diese Leute kennen nur Gerüchte über die schreckliche Vergangenheit dieses Planeten, die ihnen wie Märchen vorkommen, und sind der Meinung, dass zumindest die Stammes-Verbände hier das Paradies schon erreicht haben. Sie können sich nicht vorstellen, dass der jetzige Zustand nicht von Ewigkeitsdauer ist. Geschichte verläuft nicht linear oder ist gar statisch. Niemand bezweifelt, dass der Stamm es in den letzten Jahrzehnten geschafft hat, Hunger, Not, Mangel und Entbehrungen so gut wie zu beseitigen. Doch wer macht sich die Mühe zu überlegen, wie das zustande gekommen ist? Die Gegenwart ist kein naturgegebener Zustand. Der Stamm steht nicht isoliert in der Welt, und die augenblickliche, für manche zufriedenstellende Situation kann nur im Zusammenhang mit den Zuständen auf der Erde allgemein verstanden werden. Und dieser Zustand ist labil. Er kann sich jederzeit ändern - irgendwo. Und diese Änderung kann Einfluss auf den Stamm haben. Eine Veränderung wird den Stamm unvorbereitet treffen, wenn er sich - genauso wie die anderen Stämme - von der übrigen Welt abkapselt und so tut, als ginge sie ihn nichts an.
Es gibt eine Menge Gefahren, für die wir anfällig sind - vielleicht sogar jetzt mehr als noch vor einigen Jahren. Es hat zu allen Zeiten verschiedene Lebensformen der Menschen gegeben, und die meisten beruhten darauf, dass einige wenige Menschen die Macht besaßen, alle anderen zu unterdrücken. Für uns heute ein unvorstellbarer Gedanke, da wir die Welt als gerecht, friedlich und harmonisch erleben. Aber es ist wahr. Und es erhebt sich die Frage, ob die Erde heute, wo die wenigsten über den Horizont ihrer Lebensgemeinschaft hinausblicken, sich wirklich in so einem harmonischen Zustand befindet. Herrschen dort draußen auf den anderen Kontinenten, in den entlegenen Gebieten dieses Landes, in den Städten und Dörfern der übrigen Lebensgemeinschaften vielleicht doch Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung, Leid und Elend? Und begibt sich unser Stamm nicht auch wieder auf einen solchen Weg? Haben wir Ausgrenzung und Abwertung nicht am eigenen Leib erfahren? Auf der Erde haben sich immer Perioden, die gekennzeichnet waren von Gewalt und Grausamkeit abgewechselt mit Zeiten relativen Friedens. Es gab Matriarchate und Patriarchate, große Umwälzungen, Revolutionen und weltweite Katastrophen, und wir verschließen die Augen davor und glauben, sie könnten sich nicht wiederholen. Dabei überwiegen die Zeiten des Elends bei weitem die kurzen Atempausen harmonischer Dekaden.«
»Du hättest Volksrednerin werden sollen,« unterbrach Laura ihren Redefluss. »Du sollst mir keine Vorlesungen halten über Geschichte, wie du sie verstehst. Deine Wortgewandtheit übertrifft zudem deine Kenntnisse. Ich kann dir nicht widersprechen, da ich mich auf diesem Gebiet nicht auskenne, aber mein eigener Titel als Wächterin erinnert mich ständig an unsere wenig glorreiche Vergangenheit. Und auch wenn du es nicht hören willst so wie der Stamm mit den Männern umgeht, das ist auch eine Art von Unterdrückung und Freiheitsberaubung. Ich weiß, dass die überall gepredigte Harmonie auch dazu dient, Mängel und Fehler zu verschleiern. Aber all das nützt uns doch im Moment nichts, diese Einsichten helfen uns nicht weiter.«
»Das bestreite ich,« widersprach Yara vehement. »Wenn wir wüssten, weshalb unser Stamm so lebt, wie er jetzt lebt, warum dieser Kontinent so entvölkert ist, warum wir die Technik verbannt haben und was es mit den beiden Katastrophen, der atomaren und der Dimensions-Katastrophe, auf sich hat, dann könnten wir vielleicht der wahren Natur unserer Ahnungen und Visionen auf die Spur kommen und den Lauf der Dinge aufhalten!«
»Wir beide? Yara, du machst dich lächerlich. Du hast dich in dein Spezialgebiet verrannt, deine Chronistin-Manie geht mir auf die Nerven! Und ich sage dir hiermit, wenn wir morgen nicht einen Weg finden, der uns eventuell doch noch zu einem Erfolg verhelfen könnte, dann kehre ich um.«
Yara hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber Laura hatte sich abgewandt, und sie schluckte die Worte hinunter. Die Wächterin würde in diesem Zustand vernünftigen Argumenten nicht zugänglich sein. Und vielleicht hatte sie sich wirklich in ihr Lieblingsthema verrannt und war über das Ziel hinausgeschossen. Belehrungen dieser Art waren das Letzte, was Laura in ihrer Stimmung vertragen konnte. Ihr typischer Ausbruch kam deshalb nicht ganz unerwartet.
Yaras Zorn verlor rasch an Intensität. Manchmal schien die Kommunikation zwischen ihr und ihrer Selbst-Schwester so erschwert, dass sie vollkommen aneinander vorbeiredeten. Es musste doch zu schaffen sein, auch gerade in einer schwierigen Lage zu einer Verständigung zu kommen. Nun gut, sie waren es nicht gewohnt, tage- und wochenlang aufeinander angewiesen zu sein, da keine andere Gesprächspartnerin in der Nähe war. Deshalb prallten ihre unterschiedlichen Charaktere so hart aufeinander. Aber sollte das ihre Suche zum Scheitern bringen?
Sie wälzte sich noch lange von einer Seite auf die andere, ohne schlafen zu können. Nach den Geräuschen neben ihr zu urteilen, erging es Laura nicht besser. Doch keine wagte eine Geste der Versöhnung.
Vielleicht ist es auch gut, wenn wir uns erst mal in Ruhe lassen, dachte sie, während sie, als der Morgen schon graute, in einen unruhigen Schlaf fiel. Fiora weckte sie beide nicht viel später. Noch müde und zerschlagen sahen sie sich in die Augen.
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