Obwohl die Namen an den Liebesschlössern eigentlich kaum Informationen über ihre Träger preisgeben, finden sie erstaunlicherweise dennoch Beachtung – sowohl durch die flüchtigen und gehetzten als auch durch die genauen und ruhigen Blicke der Vorübergehenden, nicht zuletzt auch durch das medienwirksame Echo. Wenn die Namen auf den Schlössern schon kein eigentliches Wissen freigeben, so vermögen sie umso mehr zu inspirieren: Sie sind Ausdruck der Einmaligkeit derer, die sich hier miteinander „verewigt“ haben.
Für diesen menschlichen Grundvorgang des individuellen inneren „Angeregt-Werdens“, der durch das Lesen, das Hören oder die Nennung eines Namens in Gang gesetzt wird, gibt es auch in der christlichen Tradition beeindruckende Beispiele. Bernhard von Clairvaux († 1153), der bekannte Zisterziensermönch und einer der bedeutendsten „Bild-Redner“ des Mittelalters, setzt bei der ihm am Herzen liegenden Person Jesus an, wenn er sich von diesem Namen anregen lässt, um ihn in bildlicher Rede mit Öl, Licht, Speise oder Arznei zu vergleichen. Mit Blick auf den Namen Jesus stellt der Theologe vor allem eine kräftigende Wirkung heraus: „Predigt man den Namen Jesus, so leuchtet er. Betrachtet man ihn, so nährt er. Ruft man ihn an, so salbt und lindert er.“ 82In der Folge zündet Bernhard von Clairvaux geradezu ein Metaphern-Feuerwerk, wenn er ins Wort bringt, was der Name Jesus bei ihm auslöst: „Doch nicht bloß Licht ist der Name Jesus; er ist auch Speise. Oder fühlst du nicht jede Erinnerung daran wie eine Stärkung? Was kräftigt die Seele gleich wie ihr Seingedenken? Was erquickt so die müden Sinne, stärkt die Tugenden, fördert die guten Sitten, nährt die keusche Liebe so? Saftlos ist jede Seelenspeise, ist sie nicht in dieses Öl getunkt. Geschmacklos ist sie, wenn sie nicht mit diesem Salz gewürzt ist. Schreibst du etwas, es gefällt mir nicht, wenn ich darin nicht den Namen Jesus lese. Sprichst du als Streitredner oder Berater, es behagt mir nicht, wenn dabei nicht der Name Jesus erklingt. Jesus ist Honig im Munde, im Ohre Musik und Jubel im Herzen.“ 83
Menschen gravieren ihre Namen auf die Vorhängeschlösser ein, weil sie nicht allein mit ihrem eigenen Namen, sondern auch mit dem ihrer Partnerin oder ihres Partners eine erfüllte und inspirierende Begegnungsgeschichte verbinden. Wahrscheinlich könnten sie den Namen des Partners oder der Partnerin als ebenso „heilsam“ preisen, wie es Bernhard von Clairvaux am Beispiel des Namens Jesus feinsinnig ausführt. Freilich bringen die Liebenden auf den Vorhängeschlössern die Inspirationskraft des Namens nicht direkt zum Ausdruck, sondern fassen sich kurz: Durch die öffentliche Nennung der beiden Namen halten die Liebenden fest, dass sie ihre Lebensgeschichte in einer Liebesgeschichte, inspirierend für sich und andere, aufgipfeln sehen. Wenn umgekehrt Menschen die öffentlich installierten Vorhängeschlösser im Vorübergehen bemerken, können die Empfindungen der Passantinnen und Passanten dadurch auf die eigene Lebens- und Liebesgeschichte gelenkt werden. Oder sie verbleiben gedanklich bei den Liebesschlössern – als wahrgenommene Inspiration, womöglich auch als flüchtige Mahnung oder als beiläufige Erinnerung.
Die Namen auf den Vorhängeschlössern bedeuten nicht allein Anregung oder Eröffnung von Fantasieräumen. Nicht weniger stehen sie auch für die Gegenwart der beiden Liebenden: Immer wenn ich die Namen der Liebenden nenne oder die Namen auf den Liebesschlössern lese, werden die Personen präsent. Dieses Ineinander von Name und Person hat eine lange Tradition: „Die Vorstellung einer bis zur Austauschbarkeit reichenden Zusammengehörigkeit von Person und Namen ist Basis einer magischen Instrumentalisierung des Eigennamens“, wie der Religionshistoriker Burkhard Gladigow herausstellt. 84Tatsächlich knüpft die Namensnennung auf den Liebesschlössern an Gepflogenheiten vor-aufgeklärter Kulturen an. Diese kennen nämlich Weisen menschlicher Gegenwart, die uns heute nicht länger selbstverständlich sind: in Bildern, in Bildwerken oder in Namen. Im Mittelalter bezogen beispielsweise die Heiligenbilder oder Heiligenfiguren ihre Kraft aus der Vorstellung der Menschen, dass der Heilige in seinem Bild oder in seiner Skulptur leibhaftig gegenwärtig ist. Religionsgeschichtlich lässt sich die „Realität des weiterlebenden Heiligen“ geradezu als Kern jeder Bilderverehrung hervorheben. 85
Entsprechend erstellte ein mittelalterlicher Künstler ein Heiligenbild so, dass er als Erstes die zur Verfügung stehenden kleinen knöchernen Überreste des Heiligen in ein Holzbrett einlegte. Ikonografisch ergänzt um ein mit Pinsel und Farbe aufgetragenes Bild des Heiligen, zeigt sich dem Blick des Betrachters die tatsächliche Gestalt des „ganzen“ Heiligen. Noch heute arbeiten Ikonenmaler kostbare Heiligenreliquien in wertvolle Ikonen ein. 86
Eine besondere Präsenz, die mit Hilfe des Namens zustande kommt, geht seit jeher auf die Tradition der „Nachbenennung“ zurück. In diesem Fall macht die Nennung des Eigennamens nicht allein das betreffende Individuum gegenwärtig. Vielmehr bewirkt die Nennung des Eigennamens wegen der generationenübergreifenden Namensgleichheit (Urgroßvater, Großvater, Vater, Sohn etc.) darüber hinaus die Präsenz der gesamten Großfamilie. Zugleich verbanden die Menschen mit der gehäuften Verwendung eines Vornamens innerhalb einer Familie „das uralte Motiv des Zusammenhangs von Nachbenennung und Wesensübertragung“ 87: „Gleiche Namen tun gleiches Gutes“, lautet einer der Grundgedanken alteuropäischer Nachbenennung. Von der Wiederverwendung des immer gleichen Eigennamens erhoffte man sich also, dass sich das ethisch Wertvolle der mit diesem Namen schon verbundenen Familientradition auf den neuen Namensträger automatisch übertrug: „Die Übereinstimmung in den Taten hat mit der Übereinstimmung im Wesen dem Ursprung nach zu tun.“ 88Erst das Zurücktreten von Gemeinschaftsidentitäten (Familie und Verwandtschaft etc.) zugunsten der individuellen Identität hat in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Familien zu einem Ende der Nachbenennung geführt. 89So steht der Eigenname heutzutage nicht länger für eine familiäre Tradition. Wer den Namen auf einem Liebesschloss liest, würde dabei kaum noch an eine im Hintergrund des Liebenden stehende Herkunftsfamilie denken. Doch kann der Name auf einem Liebesschloss vielleicht eine moderne Form der Nachbenennung vergegenwärtigen, die freilich vor allem an die elterliche Verehrung von Musik- oder Sportidolen anknüpft (Rosi, Boris etc.). Auch in dieser Hinsicht bleibt der archaische Gedanke der gegenwartschaffenden Kraft des Namens bis hin zu den Beschriftungen der Liebesschlösser untergründig bedeutsam.
Warum, so sei abschließend gefragt, erfreuen sich die Liebesschlösser und nicht die „irrsten Hochzeiten“ so großer Popularität? Wie gezeigt, sind mit den „irrsten Hochzeiten“ kostspielige „Action“ und ein aufwändiges Event verbunden. Die Hochzeitskulisse steht im Vordergrund, das auf Dauer angelegte Versprechen erfolgt wie eine private gegenseitige Zusage. Jedenfalls spielen Institutionen wie Kirche oder Standesamt kaum eine sichtbare Rolle. Zudem findet die Trauung in weiter geografischer Entfernung vom Alltagsleben der Liebenden statt. So bleiben die Freunde und die Verwandten ausgeschlossen, was den individuellen Lebensstil der Brautleute einschließlich ihrer finanziellen Spielräume umso stärker hervorhebt. Wenn sie Ganzheitlichkeit mit Erlebnisorientierung gleichsetzen, erfüllt ihre „irrste Hochzeit“ auch dieses Kriterium klar.
Die Liebesschlösser greifen die Trends unserer Zeit offenbar in einer für viele Menschen auf Anhieb verständlichen Weise auf: höchste Wertschätzung der Individualität, große Hoffnung auf emotional tiefe und dauerhafte menschliche Liebesbeziehungen, unübersehbares Bedürfnis nach (Selbst-)Inszenierung, diskrete – fast unsichtbar bleibende – Einbindung in religiöse Traditionen, Wunsch nach „Gesehen-Werden“ durch eine kaum greifbare und in Bewegung bleibende Weggefährtenschaft.
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