Das Sparbüchsengesicht hatte nicht vom schweigenden Mönch gesprochen, nicht von einem Herrn mit Kutte, Messwein, Vaseline. Gemeint war der schweigende Mensch.
Joschi und Marius sagten nichts, und das war falsch. Sofort meldete sich wieder die Mutter, und sie klang wie ein Gewerkschaftsmegafon: »Wir machen jetzt ein neues Spiel. Es geht so: Wer am längst schweigt, hat gewonnen.« Ich hörte keinen Laut. Vier, fünf Sekunden vergingen. Dann kreischte die Mutter: »Marius, mir reicht es. Ich bin sehr unzufrieden mit dir. Der Fernseher bleibt jetzt acht Tage aus.« Marius schien diese Drohung zu schlucken. Im Waggon war ja kein Fernseher.
Inzwischen hatte die andere Mutter ihr Baby mit dem Stoßzahn in die Ohnmacht geschaukelt, im Waggon wurde es still, ich konnte das Klappern von fünfzig Laptops hören. Wie erwartet hob wieder das Sparbüchsengesicht an: »Joschi, Marius, ich habe jetzt genug von eurem Tigerspiel. Das Tigerspiel ist das Letzte. Ich mag das nicht. Ich verbiete euch ein für allemal das Tigerspiel.«
Wie gesagt, in der Nachwuchsarbeit bin ich unerfahren, so war mir auch das Tigerspiel kein Begriff. Ich fragte eine neutrale Dame auf dem Sitz neben mir, was das Tigerspiel sei, ob es mit den Praktiken des schweigenden Mönchs zu tun habe. Nein, sagte sie, das Tigerspiel symbolisiert den evolutionären Wettkampf der Männer. Ah, sagte ich, es geht also um die intellektuelle Überlegenheit, um die spirituelle Dominanz des Maskulinen. Nein, sagte sie, beim Tigerspiel geht es um den Größten, Stärksten, Schnellsten, Längsten.
O Mann, sagte ich, ich danke Ihnen, Madame, ich weiß, was Sie meinen. Dann begann ich leise zu singen:
Wenn ich am Wochenende tanzen geh / Und ein ganz besonders schönes Fräulein seh’ / Lass ich meinen Whisky Soda steh’n und dann / Dann, dann schleich / Ich an das Fräulein ran / So wie ein Tiger, oh, oh, oh / Ja, wie ein Tiger, oh, oh, oh / Denn sie gefällt mir gut / Drum hab’ ich Mut / Oh, wau, wau ...
Wow!, sagte die unbekannte Dame und formte ihre vollen Lippen zu einem verführerischen Lächeln. Ich übte im Kopf bereits den berühmten Peter-Kraus-Rülpser, dieses Schluckauf-Glucksen aus einem aufgeblähten Magen, als sich wieder das Sparbüchsengesicht zuschaltete, diesmal auf der Öko-Ebene: »Marius, lass gefälligst den Mülleimer in Ruhe. Nimm die Hände weg. Am Ende leckst du den Mülleimer noch mit der Zunge ab.«
Ich begriff nicht. Diese Sätze klangen nach einer Kombination aus schweigendem Mönch und Tigerspiel. Wie gesagt, ich kam damals mit dem Zug aus Stuttgart, einer Stadt, wo räudige Hunde sich rudelweise für Tiger hielten, weil sie Nadelstreifen trugen. Wo schweigende Mönche überall herumleckten, wenn es darum ging, mit korrupter Scheinheiligkeit der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.
Leider blieb mir nicht die Zeit, diesen politischen Gedanken zu Ende zu denken. Kurz vor Braunschweig hatte das Sparbüchsengesicht beschlossen, den Showdown der Eisenbahnfahrt einzuleiten. »Marius«, keifte das Sparbüchsengesicht, und die Stimme schien blechern auf ihren harten Lippen aufzuschlagen, »warum hast du Joschi gerade in den Finger gebissen?«
Ich hatte nichts mitgekriegt, kein schmerzhaftes Stöhnen, keinen Blutspritzer, nichts. Mit der Erfahrung jahrelanger Analysestunden bei meinem Therapeuten begann ich mir zusammenreimen, was in diesem Zugabteil vor sich ging. Marius hatte beim Biss in Joschis Finger zwanghaft reagiert. Eine Ersatzhandlung. Er war Opfer. Nicht Täter. Marius hatte keine andere Wahl gehabt. Er war der Tiger. Als er in Braunschweig mit Joschi und dem Sparbüchsengesicht aufstand, um aus dem Zug zu steigen, lief Blut aus seinem Mundwinkel. Ich schloss die Augen und schlief mit wilden Träumen bis Berlin.
Einige Jahre waren vergangen seit diesem Ereignis, als ich mir neulich im Intercity nach Berlin in Höhe von Kassel eine herrenlose Bild-Zeitung griff, um mich von dem Babygeschrei im Zug abzulenken. Die Schlagzeile auf der Titelseite traf mich wie ein Stoßzahn: »ICE-Vampir von Fulda mordet weiter – Sechstes Opfer im fahrenden Zug«. Ich musste die Horrorgeschichte nicht zu Ende lesen, um die Sache zu begreifen.
Marius spielte das Tigerspiel. Er ging durch Intercity-Waggons zweiter Klasse, er sagte kein Wort – und dann / dann, dann / schlich er an die Fräuleins ran. Einem halben Dutzend Mütter hatte er auf diese Weise in den vergangenen Wochen die Zunge aus dem Schlund gebissen. Als ich in Fulda den vertrauten Bahnhof sah, malte ich mir aus, wie es Marius genoss, wenn das Blut einer durchgebissenen Zunge an die Waggondecke spritzte, während sich vor seinen Augen im Zugfenster das Sparbüchsengesicht spiegelte.
Keiner, das wusste ich, würde den Vampir von Fulda jemals schnappen. Keiner kennt ihn, und ich bin der schweigende Mönch.
Bürger, zur Sonne!
Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Ex-Menschen,
heute, im April 2012, begrüße ich Sie zu einem historischen Neubeginn in der Stadt. Willkommen in der ersten Bürgerkolumne.
Mitten im Bürgerwahlkampf um das Amt des Bürger-Rathauschefs versammelten sich acht Bürgerinnen und Bürger, darunter eine Frau, für ein Zeitungsfoto. In Höhe ihres primären Geschlechtsmerkmals hielten sie Schilder vor ihren Körper: »Bürger-OB Sebastian Turner e.V.«. Damit auch der Bürger-OB wusste, wo er herumstand, packte er sich ebenfalls Propaganda-Pappe vor den Bauch: »Bürgerstadt Stuttgart«.
Der Schildbürgerverein für zwielichtige Kassenmanöver besteht aus Mitgliedern von CDU, Freien Wählern und FDP – letztere ein Sektiererclub, den der Amtschef des Stuttgarter SPD-Finanzministers neulich auf Facebook als »FD-Pisser« würdigte. Diese verbale Inkontinenz löste eine Bürgerkrieg zwischen FDPennern und SPDeppen aus, beschädigte aber nicht den Ruf des bürgerlichen Lagers. Das bürgerliche Lager ist sowieso eine Latrine. Der »Bürger-OB«-Verein hatte sich bereits vor dem Parteienkrach im Landtag für ein Gruppenbild mit Dame (letzte Reihe) formiert. Der Fotograf sagte: »Alle mal lächeln«, und fertig war der Cheese-Bürger.
Der gequält grinsende Cheese-Bürger hat mithilfe seines Leithammels aus der Reklamebranche, er heißt Turner, ein neues Berufsbild erfunden: »Bürger-OB« heißt auf Deutsch Bürger-Oberbürgermeister – eine Art Polit-Tampon für alle.
Unser neuer Mitbürger Bürger-Oberbürgermeister ist eine typische Marketing-Marke. Nach Art des Marketing-Vermarkters hat er den Oberbürgermeister auf den Bürger »runtergebrochen«. Ziel ist es, die Bürger mit der Marke »Bürger-Oberbürgermeister« im gebrochenen Sprachgebrauch der Politiker-Analphabeten »abzuholen« und »mitzunehmen«. So will man verhindern, dass der Bürger als Wähler des Bürger-Oberbürgermeisters »wegbricht«, bevor er selber bricht.
Der Bürger-Oberbürgermeister versprach den Menschen, als Weltbürger die Stuttgarter Bürgerwelt zu »einen« und zu »entfalten«. Diese bürgernahen Worthülsen bedeuten: designen, leimen, schleimen.
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
ich bringe meine Freude darüber zum Ausdruck, welche Wertschätzung der Bürger in diesen Tagen erfährt.
Vor dem Auftritt des Bürger-Oberbürgermeisters hatte der Bürger ein miesen Ruf. Das Bürgertum vom Killesberg bis nach Kaltental galt als Horde protestierender Penner und Anarchisten. Ein Hambürger Journalist schuf gar den Stuttgarter »Wutbürger«, als er sämtliche Teile des Klein- und Spießbürgers in seiner hanseatischen Kloschüssel zusammenrührte.
Bald darauf brüllte die CDU: Bürger, wehrt euch! Seitdem ist die Bürgerwehr überall. Sie tut so, als sei der Bürger King. Der selbsternannte Bürger-Oberbürgermeister macht uns vor, er befreie den Bürger aus seinem »Wutbürger«-Käfig, kaum dass man in der Stadt den Schlossgarten abgeholzt und den Bahnhof zerstört hat. Auferstanden aus Ruinen ist die Bürger-Rechte – ein reaktionärer Haufen von Grün bis Schwarz.
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