Joe Bauer
Im Kessel brummt der Bürger King
Spazieren und über Zäune gehen in Stuttgart
Mit einem Nachwort von Wiglaf Droste
FUEGO
Über dieses Buch
Joe Bauer blickt in die Tiefen und Abgründe des Talkessels. Seine Spaziergänger-Geschichten führen nach Stammheim, ins Rotlicht und an einen lebensgefährlichen Wasserfall. Immer wieder auch zu den Kickers. Melancholisch, sarkastisch, selbstironisch beschreibt er sein Verhältnis zu seiner Stadt und zum Rest der Welt. Zwischen Investorengier, Lügenpolitik und Zukunftsgelaber erkennt er die versteckten Schönheiten und die vergessene Historie Stuttgarts. Er weiß, in welcher Mini-Bar Gary Cooper und Ella Fitzgerald ihre Autogramme hinterlassen haben und warum Picassos Lump ein Stuttgarter Dackel war.
»Joe Bauers Geschichten klingen schonungslos oder zärtlich, wütend oder wehleidig. Was sie verbindet, ist ihre Haltung: Der warmherzige Blick des ewigen Fremden auf jene, die sich im Talkessel zusammengefunden haben, um der seltsamen Beschäftigung nachzugehen, die sie Leben nennen.«
Stuttgarter Zeitung
»Joe Bauer ist kein Gonzo-Journalist wie Hunter S. Thompson oder Jörg Fauser, schon gar kein Popliterat. Er ist ein melancholischer Beobachter: nicht drin in der Gesellschaft, aber auch nicht ganz draußen; und eher emphatisch als sarkastisch. Er ist Kolumnist, laut Eigendefinition ›ein gelernter schwäbischer Kleingeist‹ - und dabei eben gleichzeitig keiner.«
Peter Unfried, TAZ
Der Autor bedankt sich bei Jürgen Holwein für den Rat eines Freundes.
Ein Dankeschön auch an Bettina Hartmann.
Boxer zum Barmann:
Es war im Grunde
meine Runde.
Die Kunst des Müßiggangs
Bevor ich diese Zeilen geschrieben habe, ging ich am Morgen von meiner Wohnung hinaus auf die Straße, um Witterung aufzunehmen. Es war ein früher Herbsttag, sonnig und warm, die Zeit, die man bei uns Altweibersommer und in Amerika Indian Summer nennt. Für den Spaziergänger, den Stadtwanderer mit Hang zum Müßiggang, ist der Herbst Hochsaison. Im frühen Herbst verändert sich in der Stadt das Licht, das Licht verändert die Stadt. Die Blätter färben sich, aber noch nicht so heftig, dass man die Depressionen des Winters spürte.
Es gibt Bücher über die unterschätzte Kunst des Lichts in Filmen, und der Umherwandernde, egal ob in der Natur oder in den Straßen, hat von der Magie des Lichts gehört. Ein Mensch, der sich eine Stadt erwandert, fühlt sich wie die Figur eines Films; er achtet auf den Soundtrack der City, auf die Bilder, und er hat Respekt vor dem Licht.
Der New Yorker Autor Leonard Michaels schreibt in seinem Essay »Das Nichts, das nicht da ist«: »Früher gab es Innen und Außen, Drinnen und Draußen, Mensch und Natur. Früher gab es Natur. Die Menschen traten aus dem Haus ins Licht der Natur. Früher gab es Licht.« Diese Zeile fand ich in einem Buch über das Lichtgenie Edward Hopper, und ich würde sie nicht auf das Früher beschränken. Bei gutem Willen hat der Spaziergänger auch heute die Chance, aus dem Haus ins Licht der Natur zu treten, egal ob in Stuttgart oder New York.
Der Spaziergänger genießt keinen guten Ruf, schon gar nicht im Digitalzeitalter, wo man die Hinwendung zur Muße als esoterisch verachtet. Der Flaneur geht immer gegen den Wind. Die sich häufenden Berichte über die Burn-out-Probleme der Menschen verweisen zwar schuldbewusst auf das anstößige Wort »Pause«. Aber gezielter Müßiggang, etwa die Ablehnung permanenter Online-Präsenz, gilt als unprofessionell. Undenkbar, einer unserer »gesellschaftlichen Leistungsträger« (was er wohl trägt?) könnte seinen Drang zur Besinnung wie der Dichter Adalbert Stifter gestehen: »Ich ging täglich eine Zeit herum.« Mit diesen Worten eröffnet Stifter seine Spaziergänger-Miniatur »Begegnung im Wald«.
Meine Erstversuche als Herumgeher mit dem Ziel, als Berichterstatter aus vermeintlichem Nichtstun Kapital zu schlagen, gingen daneben. Ich hatte dieses Geschäft unterschätzt, war nicht vorbereitet. Ziellos durch die Stadt zu strolchen in der Hoffnung, etwas zu erfahren oder zu erleben, bekommt erst einen Sinn, wenn man sich darin übt, neben den Beinen auch den Gedanken freien Lauf zu gewähren.
Lange ging ich durch die Stadt, ohne zu merken, dass ich den Kopf nicht hob. In dieser Zeit sah ich die Stadt nur bis zur Gürtellinie. Kaum einmal war ich so klug, mir Geschäftsgebäude auch über den Schaufenstern anzuschauen.
Als mir aufging, dass ich so der Stadt nicht mehr abgewinnen konnte als ein Butterfahrten-Tourist, kaufte ich mir ein Fernglas. Heute dient es mir weniger dazu, Dinge auszukundschaften, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann, als vielmehr zur Ermahnung, mir von Zeit zu Zeit in den Hintern zu treten, um den Hals zu recken.
Seitdem ist das Herumgehen eine angenehm anstrengende Arbeit. Bewusstes Herumgehen ohne Ziel schüttet mehr Glückshormone aus als ehrgeiziges Joggen in Wurstpellenklamotten. Der Flaneur macht einen zeitlosen Job. Zwar verändert sich ständig das Ambiente seines Arbeitsplatzes, nicht aber das Verhalten der Menschen, die ihm begegnen. Der große Berliner Flaneur Franz Hessel (1880 bis 1941) schreibt in seinem Text »Der Verdächtige«: »Langsam durch belebte Straßen zu gehen ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen es einem nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer misstrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.«
Sieht man heute den Flaneur schon nicht als Taschen-, so doch als Tagedieb. Flaneur übersetzt man mit Herumtreiber, Eckensteher, Penner. Diese Verachtung hat mit dem Verlust der Muße zu tun, obwohl selbst der erfahrene Spaziergänger leider selten so zweckfrei durch die Stadt geht, wie es die Philosophie des Müßiggangs verlangen würde. Ist der Stadtwanderer bewusst – nämlichen offenen Auges und ohne Ohrenstöpsel – auf Tour, gerät er aus der digitalen Welt hinein in die Geschichte einer Stadt. Dieses Glück widerfährt dem Lustwanderer nicht etwa, weil er mit einem Reiseführer in der Hand historische Gebäude oder Plätze identifiziert. Es ist die Neugierde, die ihn steuert als Detektiv.
Von zeitgenössischen Stadtplanern stammt die These, es sei hilfreich, die Komposition eines bebauten Raums mit der Komposition eines Musikstücks zu vergleichen. So wie Musik nicht nur aus Noten, sondern aus Pausen bestehe, zeichne sich eine Stadt nicht allein durch Gebäude, sondern durch freie Räume aus.
Das bedeutet: Der sinnvoll angelegte Raum zwischen den Gebäuden ist genauso wichtig wie die richtig gesetzte Pause zwischen den Noten.
Eine solche Pause ist der Park – und der Park ein Ort, der als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart dient, so wie eine Kirche in der Stadt etwas über Ruhe und Stille lehrt. Man erfährt bei der Beschäftigung mit Freiräumen und Rückzugsgebieten etwas über die Menschen, die lange vor einem da gewesen sind, so wie jede Wanderung durch einen abgelegenen Stadtteil das Interesse an der Vergangenheit und der Geschichte weckt. Seltsamerweise trifft man in jeder Stadt alteingesessene Einwohner, die viele Brennpunkte der Welt bereist, aber nie den höchsten Aussichtsturm ihrer Umgebung erklommen oder gar ein Schiff auf dem Fluss vor ihrer Haustür betreten haben. Dabei wäre es die schönste Belohnung des Stadtwanderers, sich nach getaner Arbeit ein weiteres Stück Stadt auf dem Wasser zu erschließen.
Der Stadtwanderer macht psychisch befreiende Lerngänge, das gilt selbstverständlich auch, wenn er sich illegale Autorennen auf Partymeilen anschaut, das Rotlichtviertel erkundet oder prüft, wie sich der urbane Geist einer Kommune im Kunstmuseum spiegelt. Aufschlussreich und beseelend sind stets die Friedhöfe. Der Umgang mit dem Tod spiegelt das Leben.
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