Ich war bereits auf dem Weg nach Hause, als die Nachricht kam, Unbekannte hätten den Bauzaun gestürmt und Rohre für das »Grundwassermanagement« der Baustelle beschädigt. Ferner habe es ein Gerangel mit einem bewaffneten Zivilpolizisten gegeben. Der Beamte sei »schwer verletzt« worden. Zwar saß er, wie man wenig später auf Videos sehen konnte, nach dem Kampf telefonierend im Auto und verließ nach Aussagen seiner Kollegen am nächsten Morgen bei guter Gesundheit das Krankenhaus. Dennoch wurde lange die Mär verbreitet, man habe ihn »halb totgeschlagen«. Die wie stets auf dem rechten Auge objektive Staatsanwaltschaft ermittelte wegen »versuchter Tötung«. Prompt wurde ich wegen meiner Bastille-Bemerkung als »Hetzer« und »Brandstifter« beschuldigt. So etwas ist üblich in einer Stadt, von der es heißt, sie sei geteilt.
Da aber am Tatort Zangen zu sehen waren, gehe ich bis heute davon aus, dass sich die Rohrsoldaten ihr Werkzeug schon vor dem Schlusssatz meiner Rede besorgt hatten. Der nächste Obi nämlich liegt etliche Kilometer entfernt. So war es an diesem 20. Juni wohl ein anderer Agent als ich, der beweisen wollte: Auf dem Weg zur Freiheit ist mein Freund, der Zaun, kein Hindernis.
Der Vollheutige
Viel bin ich nicht herumgekommen in den vergangenen Tagen. Bad Berg. Dachswald. Sofa. Auf dem Sofa las ich eine Kurzgeschichte von James Salter: »Es war eigentlich wie in einer Ehe, uninteressant, aber was gibt es sonst?«
Das gab mir Hoffnung. Ich führe keine Ehe.
Die Schwierigkeiten von Beziehungen fangen an, bevor die Beziehungen beginnen. An der Haltestelle Berliner Platz hörte ich einen Jungen zu einem Mädchen sagen: »Warum nimmst du mich nicht mit zu dir nach Hause? Schließlich habe ich das Essen bezahlt!«
Junge, wollte ich sagen, du warst beim falschen Koch. Der Junge sah stärker aus als ich. Seinen Satz, er habe das Essen umsonst bezahlt, schrieb ich in mein Notizbuch. Wenn tagelang nichts in mein Notizbuch wandert, war das Leben wie in einer Ehe.
Am Sonntag, als es sonst nichts gab, sah ich mir den amerikanischen Dokumentarfilm Inside Job an, er handelt von den Gründen des Börsendesasters 2008. In dem Film sagt ein Banker: Die wenigen Experten, die davor gewarnt haben, dass die Blase platzt, hat man als Ewiggestrige verspottet. Der Ewiggestrige schlug bei mir ein. Ich kenne das Wort. Der Ewiggestrige ist ein politischer Kampfbegriff, ein Totschlagargument. Ständig versucht das Zockerpack, Gegner und Opfer des Blasenplatzens als Hinterwäldler, Waldschrate, Hippies zu verspotten.
Leute, die andere Leute Hippies nennen, haben keine Ahnung, wo das Wort Hippie herkommt. Was es bedeutet. Wer anderen Leuten unterstellt, ewiggestrig zu sein, weiß so gut wie nie etwas über das Gestern. Vom Ewigen ganz zu schweigen. Woody Allen sagt: Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.
Ich frage mich: Was kommt eigentlich nach der Zukunft?
Neulich hat mir ein Fortschrittlicher seine Erkenntnis gemailt, Leute, die gegen S 21 protestierten, seien »Nostalgiker«. Und weil er nicht genau wusste, was das ist, lieferte er kopierte Textstellen aus Wikipedia mit: Nostalgiker, ist da zu lesen, verklärten die Vergangenheit. In einem eigenständig formulierten Satz fügte er hinzu: Leute, die gegen Stuttgart 21 protestierten, hörten nur Jimi Hendrix und Rolling Stones.
Wer solche Klugheiten über den Ewiggestrigen verbreitet, ist ein Vollheutiger.
Ich antwortete dem Vollheutigen, es sei noch schlimmer, als er denke: Manche dieser Leute hörten sogar Mozart und Bach. Bis heute hätten sie nicht das Zeitgemäße und Morgige von Florian Silbereisen erkannt.
Lustig, wenn ich bei Ratzer Records in der Altstadt neue Schallplatten gekauft habe und mit meiner Tüte nach Hause gehe. So gut wie immer treffe ich unterwegs einen Vollheutigen, der mich fragt, ob ich »wieder alte Scheiben« gekauft hätte, von Hendrix, den Rolling Stones und so. Wenn ich antworte, ich hätte mir gerade brandneue Vinyl-Produkte von blutjungen Musikanten besorgt, alle erst gestern aufgenommen und heute veröffentlicht, schaut mich der Vollheutige mitleidig an. Er denkt, ich leide an Alzheimer.
Mein Hinweis, der Ewiggestrige könne mithilfe seiner LP die Musik sogar im Internet herunterladen oder als CD hören, bringt den Vollheutigen vollends aus der Fassung. Woher soll er wissen, dass CD oder Download-Code oft serienmäßig im LP-Cover liegen? Der Vollheutige ist bis heute nicht im Heute angekommen. Jeder Musiker, der etwas auf sich halte, sage ich zum Vollheutigen, bringe seine Musik auch auf Vinyl heraus. Eine Frage des Stils. Der Vollheutige glotzt ungläubig.
Ich sage: Vinyl ist wie Sex. Nicht vom Internet abhängig, zum solistischen Herunterladen geeignet, aber auch bei zwischenmenschlichen Angelegenheiten von Vorteil. Ein Essen auszugeben ist ja heute keine so sichere Sache mehr.
Verstehst du, sage ich zum Vollheutigen, einer LP-Hülle die Plastikfolie abzustreifen, die dichte Pressung mit heißen Fingern zu streicheln, das Ding in den Händen zu halten, die Scheibe samt Booklet herauszuziehen, die Nadel richtig anzusetzen, das ist ein haptisches Erlebnis, erregender als deine Ehe, wo es sonst nichts gibt.
Früher, als es Vinyl und keine CDs und keine Computer gab, hat mich diese Erfahrung nicht angemacht. Oft ist mein Schwarzes Gold in Whiskey-Cola geschwommen und kaputt gegangen. Heute bin ich scharf auf die Dinger. Beim ewiggestrigen Elektrogeschäft Dräger in der Hauptstätter Straße habe ich mir einen nagelneuen Plattenspieler gekauft. Damit höre ich Musik, die es heute ohne Mozart und Hendrix nicht gäbe.
Der Ewiggestrige – um die Sache abzuschließen – ist ein Außerirdischer, der Vinylplatten hört und Filme im Kino schaut, Bücher liest, Museen besucht und im Gegensatz zum Vollheutigen weiß, dass es auch Museen für Zeitgenössisches gibt. Der Ewiggestrige macht diese Dinge, damit er eher heute als morgen merkt, welche aufgekochte Scheiße die wahren Gestrigen dem Vollheutigen als Fortschritt und Zukunft verkaufen.
Vom Ende der Uhr
Es ist kein Verbrechen, Zeit zu verschwenden. Am Ende ist es wurscht, ob man sie totgeschlagen hat. Abgelaufen wäre sie so oder so. Die Zeit ist ein philosophisches Problem, und in meinem Alter hat man zum Glück nicht mehr die Zeit, es zu lösen.
Am Hölderlinplatz steht eine Standuhr. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn eine Standuhr steht. Leider aber stehen seit langem auch ihre Zeiger. Es sieht aus, als sei die Zeit nicht nur stehengeblieben. Sie hat sich aus dem laufenden Betrieb verabschiedet.
Neben der Standuhr gibt es einen Zeitungskiosk. Das heißt: Es gab mal einen. Die Betonbude, nicht wesentlich größer als ein Karton aus dem benachbarten Schuhgeschäft, steht zwar noch. Allerdings hat man den Rollladen auf eine Weise heruntergelassen, die jede Hoffnung zunichtemacht. Vor einigen Jahren noch hat hier Frau Balogh Zeitungen und Illustrierte verkauft. Auf dem Tresen standen Gläser mit eingelegten Paprikascheiben, und im Notfall gab es einen Magenbitter. Eines Tages war Frau Balogh weg und der Kiosk dicht.
Jedes Mal, wenn ich am Hölderlinplatz aus dem 40er-Bus steige und die Standuhr neben dem Fernsehgeschäft Eberle sehe, muss ich an Frau Balogh denken. Nicht selten erschienen mir ihre Einmachgläser als einzige Orientierungspunkte im Warnlichter-Chaos am Hölderlinplatz.
Am Hölderlinplatz gibt es so viele Ampeln, dass daneben keine Uhr Überlebenschancen hat. Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag die Uhr stehengeblieben ist. Spielt keine Rolle. Heute ist es immer zehn nach zwei oder fünf vor viertel drei.
Tatsache ist: Uhren im öffentlichen Raum haben ausgespielt. Schon einige Male habe ich Leser-Mails mit der Aufforderung erhalten, ich solle mich endlich um die verdammten Uhren kümmern. Um die schönen Uhren, die es nicht mehr gibt.
Die öffentliche Uhr verschwindet aus dem Stadtbild. In der urbanen Möblierung spielt sie keine Rolle mehr. An etlichen Haltestellen wurde die Uhr abmontiert, ohne dass einer deswegen die Alarmglocke geläutet hat. Vermutlich ist es der Straßenbahngesellschaft zu teuer, die Zeit anzuzeigen, wo man doch keine mehr hat.
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