Seit ich lebe, habe ich enorme Schwierigkeiten, mich in der Welt zurechtzufinden. Die Ursache des Problems, erfuhr ich aus dem Artikel, ist die Tatsache, »dass der regelmäßige Gebrauch von Navigationsgeräten den Orientierungssinn verkümmern lässt«.
Diese Nachricht war ein Schock. Wenige Tage zuvor war es mir nur mithilfe meines Taschentelefons gelungen, Namen und Standort eines Frankfurter Cafés zu ermitteln, in dem ich gerade Kartoffelsuppe mit Wiener Würstchen zu mir nahm. Seit jeher leide ich an katastrophaler Orientierungslosigkeit. Allein deshalb habe ich Stuttgart nie verlassen. Noch heute kommt es vor, dass ich mich in meiner Nachbarschaft verlaufe. Es gab Zeiten, da habe ich tage- und nächtelang nicht nach Hause gefunden. Nicht einmal mit dem Taxi.
Der Artikel in der Apotheken Umschau hieß »Kompass im Kopf« und förderte wichtige psychologische Erkenntnisse zu Tage. Zitat: »Da das Auge eine herausragende Rolle spielt, tun sich blinde Menschen grundsätzlich mit der Orientierung schwer.«
So präzise hatte das noch nie einer gesagt. Jetzt erst wurde mir mein wahres Handicap bewusst. Als ich ausstieg, begriff ich, warum etwas nicht stimmt mit meinem Kompass im Kopf. Gott hat vergessen, die Nadel einzubauen. Kaum aus der U-Ebene aufgetaucht, sah ich in der Eberhardstraße einen Computerladen, und ich war mir sicher, dass an dieser Stelle noch kurz zuvor ein Waffengeschäft für Luftgewehre, Schmetterlingsmesser und Pfefferspray geöffnet hatte. Könnte sein, dass ich vor dem Geschäft eine Wahrnehmungsstörung erlitten hatte. Als härteste und blutigste Waffe gilt inzwischen der Computer, weit wirkungsvoller als jede Kalaschnikow. Die Amerikaner behaupten bis heute, der Klapprechner sei dem Kriegsbeil überlegen. Vietnam, Afghanistan und Avatar in 3 D jedoch haben uns etwas anderes gelehrt.
Sobald mein Schnupfen auskuriert ist, werde ich mir eine neue Krankheit zulegen und erneut den weisen Apotheker aufsuchen. Bis dahin müssten Berlusconi und Gaddafi, Mubarak und Kretschmann vom Schirm sein. Und der Apotheker und ich würden so viel und so lange über die Rest-Mafia zu reden haben, bis sich meine Medikamentenrechnung bei null einpendeln dürfte.
Allerdings gibt es inzwischen ein Problem: Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Apotheke wiederfinden könnte. Sie war verdammt tief im Westen, ich kann mich nicht an die Adresse erinnern, auch nicht an ihren Namen. Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als wildfremde Leute in den Straßen zu fragen, ob jemand den weisen Apotheker vom Westen kennt. Ich muss ihn finden, er ist der letzte Mann mit einem Kompass im Kopf. Helfen Sie mir, werde ich den Leuten zurufen: Ich suche den Mann, der weiß, wo das verfluchte Lumpenpack unter einer Decke steckt.
PS: Anfang 2012, ein Jahr, nachdem dieser Text erschienen war, erhielt ich anonym eine Nachricht, mein Apotheker sei gestorben.
Der Zaun
Nicht ohne Grund kommt der Spaziergänger oft daher, als hätte man aus seinem Pferd Salami gemacht. Der Spaziergänger ist der kleine Bruder des Cowboys. Feinde des Spaziergängers sind nicht der Autofahrer oder der Radfahrer. An diese Kampfmaschinen hat er sich gewöhnt. Der Spaziergänger hat etwas gegen Zäune. Wer Herumstreunen als einen Akt der Freiheit begreift, sieht den Zaun als Symbol des Bösen.
Die Verachtung gilt in erster Linie dem Stacheldraht, einer amerikanischen Farmer-Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Warum der Cowboy Stacheldrähte hasst, hat uns King Vidors Western Man Without a Star von 1955 gelehrt. Kirk Douglas spielt einen Mann, der erlebt, wie sie den Traum von endloser Weite und Freiheit zerstören. Nach der Jahrtausendwende sollte zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ein mehr als tausend Kilometer langer Zaun gebaut werden.
Vor allem die Deutschen haben Zäune als Vehikel der Niedertracht kennengelernt. Am 13. August 1961, sechzehn Jahre nach dem Nazi-Terror mit seinen KZ-Zäunen, begann die DDR-Regierung mit dem Bau der Berliner Mauer. Als fast ein halbes Jahrhundert später Journalisten ohne Ortskenntnisse die »Stuttgarter Republik« ausriefen, stand in deren Hauptstadt ein Zaun. Kein Stacheldrahtzaun, ein Bauzaun aus Maschendraht. Die Deutsche Bahn und ihre Helfershelfer aus der Politik hatten ihn zur Kastration des Hauptbahnhofs errichten lassen. Er schützte die Barbaren bei der Zerstörung des denkmalgeschützten Paul-Bonatz-Baus. Im August 2010 fiel der Nordflügel. Später wurde auch der Südflügel abgehackt.
Kaum war im Sommer 2010 der Bauzaun am Bahnhof aufgebaut worden, verkörperte er mehr, als den Drahtziehern der Profitmaximierung lieb sein konnte. Die Gegner des Größenwahnprojekts Stuttgart 21 eilten nicht etwa herbei, um das hässliche Stadtmöbel einzureißen. Sie nutzen es als Aushängeschild ihrer neu erwachten Fantasie.
Es war klar, im Monat August, der Geburtsstunde der deutschen Mauer, würden auch die Berliner Bilder in den schwäbischen Köpfen spuken. »Halt, Zonengrenze!«, stand auf einem Schild am Bauzaun, »Sie verlassen den demokratischen Sektor der Stadt Stuttgart.« Bald war der Zaun mit Zeugnissen erstaunlicher Kreativität behängt, die Botschaften oft politischer als einst die Lackmeiereien der Berliner Mauer-Sprayer (»Schade, dass Beton nicht brennt«).
Neben Brecht und Gandhi, Jesus und Maria hatte in Stuttgart naturgemäß der Kalauer seinen großen Auftritt. Auf der Saustelle, Teil der Bahnanenrepublik, herrschten die Gesetze der TaliBahn, und beim Blick auf den geplanten Tiefbahnhof lautete die erste Lebensregel: »Oben bleiben – Unter die Erde kommen wir noch früh genug.«
Der ideenreich behängte Zaun wurde eine Touristenattraktion, besonders gefiel er als Galerie des Lügenpacks, angeführt vom Regierungschef Mappus, dem fülligen Paten der Mappia. Wie überheblich und einfältig die Machtbacke von Mühlacker operierte, brachte eine Kabarett-Sendung im ZDF ans Licht. Der Ministerpräsident hatte die SPD im Landtagswahlkampf 2011 mit einem Zirkus-Lama in der Fußgängerzone verglichen: Mitleid erregend und im Weg stehend, wie ein Zaun. Diesen Gag hatte ihm nicht wie sonst sein Vormund aus der Investmentbanker-Branche diktiert. Diesmal hatte er seinen Spruch bei dem Komiker Erwin Pelzig gestohlen. In seiner Show führte Pelzig vor, wie stümperhaft Mappus die Lama-Nummer am Rednerpult aufführte.
Politischer Stil war längst begraben, als der Bauzaun stand. Ende 2011 stellte das Stuttgarter Haus für Geschichte den zerlegten Bauzaun im Museum aus. Dahinter steckte das Kalkül, der Protest lasse sich nicht nur als Zeitgeist- und Event-Stoff ausschlachten, sondern auch für beendet erklären. Da zuvor die manipulierte Volksabstimmung stattgefunden hatte, sollten die Unbedarften glauben, der Protest sei in der Abstellkammer der Geschichte gelandet. Verräterischer Titel der Schau: »Dagegen leben?« Diese Frage entsprach der politischen Meinungsmache, die Protestbürger seien die üblichen »Fortschrittsverweigerer«.
Mein eigenes Zaun-Erlebnis hatte ich am 20. Juni 2011. An diesem Tag war ich als Schlussredner bei der Montagsdemonstration am Hauptbahnhof eingeteilt. Einleitend erinnerte ich daran, dass am 20. Juni 1933 Clara Zetkin gestorben sei, eine große Demokratin, die viele Jahre in Stuttgart gelebt habe, erst in Sillenbuch, dann in der Blumenstraße. Früh schon habe diese Frau begriffen, wo die Politik der SPD einmal hinführen werde: zu Sozenspießern wie Drexler, Schmiedel, Schmid ...
Kurz vor dem Tag meiner Rede war der 14. Juli 2011 als Datum für die Veröffentlichung der sogenannten Stresstest-Ergebnisse für S21 ausgerufen worden. Der 14. Juli als Erntedankfest des Schlichtungsheuchlers Geißler, einem oft gewürdigten Zaun-Gast der Lügenpack-Galerie, und so wählte ich als Schlusspointe meiner Rede wieder einen historischen Schlenker. Wenn ich richtig informiert sei, sagte ich, hätten die Bürger von Paris an einem 14. Juli beim Sturm auf die Bastille eine Tat vollbracht, die ganz Frankreich bis heute mit einem Feiertag zu würdigen wisse.
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