In dem Haus in der kleinen Fußgängerzone zwischen Leonhardsplatz und Weberstraße wurde am 2. Januar 1807 Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann geboren. Keine Tafel, nichts erinnert an ihn. Vielleicht, sagt Heinrich, habe man den Mann bewusst vergessen, weil er ein radikaler Demokrat gewesen sei. Wilhelm Zimmermann war ein schwäbischer Dichter und Historiker, protestantischer Theologe, Doktor der Philosophie. Er schrieb Dramen, Novellen, Gedichte und veröffentlichte die berühmte »Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges«. In Stuttgart besuchte er – zusammen mit seinem Freund Eduard Mörike – das Gymnasium Illustre, heute Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Während der Revolution von 1848/49 wurde er im Wahlkreis Schwäbisch Hall als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung der Paulskirche gewählt; er zählte zur aufrechten Linken. Kurz darauf zog er mit großer Mehrheit für den Wahlkreis Schwäbisch Hall in die verfassungsgebende württembergische Landesversammlung ein.
Auf diese Dinge kommt der Spaziergänger in der Altstadt, bei einem Plausch mit Heinrich, geboren und aufgewachsen in Heidelberg. Es gibt in Stuttgart seit 1907 auch eine Zimmermannstraße, zwischen Olga- und Alexanderstraße. Um etwas über den Namensgeber zu erfahren, braucht der Flaneur eine detektivische Ader. Gegen ein Schild mit der Aufschrift »Wilhelm-Zimmermann-Straße« hat entweder die Stuttgarter Schildervorschrift oder die knappe Kasse gesprochen, so dass wir auf diesem Weg nicht über den Dichter stolpern.
Wilhelm Zimmermanns Geburtsstätte in der Jakobstraße 6 wurde zwischen 1700 und 1750 erbaut, als Barockhaus ist es ein Kulturdenkmal ersten Ranges. Vielleicht reicht ja die Stuttgarter Schilderverordnung aus, dem Dichter (er starb 1878) eine Erinnerungstafel zu widmen. Das würde nicht nur Heinrich freuen. Sollte das zu viel verlangt sein, bleibt uns ein Ausflug zur Wilhelm-Zimmermann-Gedenkstätte in Dettingen an der Erms.
Vielleicht aber wird auch das Stuttgarter Haus des toten Dichters eines Tages an einen großen Sohn der Stadt erinnern. In den guten Zeiten der Altstadt war es üblich, Kollekten zu organisieren, wenn einer der Jungs aus dem Viertel hinter Knastmauern wanderte. Heinrich hat beschlossen, etwas Kohle für den Freiheitskämpfer Wilhelm Zimmermann zu sammeln. Ein Erinnerungsschild an dessen Geburtshaus wäre ein kleines Zeichen gegen die Betonköpfe im Rathaus.
Das Schweigen der Lämmer
Das Baby in meinem Waggon schrie, als wäre sein Leben verwirkt. Das Baby sah frisch aus, so gut wie keine Kopfhaare, vermutlich war es vorhin erst im fahrenden Zug geboren worden, ungefähr bei Kassel. Ich kenne mich nicht gut aus in diesem Geschäft. Bei meiner Art Nachwuchsarbeit ist bis heute nichts Zählbares herausgekommen.
Ich habe davon gehört, Babys schrien vor Schmerz, wenn sie Zähne bekämen, ihre ersten. Das Baby in meinem Waggon hörte sich an, als bräche sein erster Stoßzahn durch den Kiefer. Aber kein Mensch hört hin, wenn ein Baby beim Halt in Fulda schreit. Viele schreien sich an dieser Station den Frust von Fulda von der Seele.
Oft bin ich mit dem Zug von Stuttgart nach Berlin und wieder zurück gefahren, und immer sind die sonderbarsten Dinge in meinem Leben bei Fulda passiert. Einmal habe ich im Bahnhof Fulda aus dem Fenster gesehen und den Slogan der Stadtwerbung auf einer Bahnsteigtafel gelesen: »ideal zentral«. Fulda. Da war mir alles klar. Es war wie damals, als der Intercity noch in Böblingen hielt.
Ich war guter Dinge auf dieser Reise, konnte nicht ahnen, dass Fulda an diesem Tag noch mehr auf Lager hatte als ein Elefantenbaby. Das Drama begann, als sich die Mutter anschickte, ihr Baby mit großer körperlicher Leidenschaft in den Schlaf zu wiegen. Sie tat das so lange, bis der Waggon schaukelte und sich der Kaffee aus meinem Pappbecher über meine Hose ergoss. Der Kaffee im Intercity ist bekanntlich dünn und scheiße, aber er war heiß. Ich schrie laut auf, die Schmerzen kamen aus meinem Stoßzahnbereich. Als mich die Fahrgäste vorwurfsvoll anschauten, zog ich wie Clint Eastwood die Haut meiner Backe unter dem linken Auge hoch und zeigte mit abgewinkeltem Daumen auf das Baby. »Hätten Sie je Zähne bekommen, hätten Sie mehr Mitgefühl mit jungen Menschen«, sagte ich zu einem Mann, der mich betont erwachsen anschaute.
Ich hatte Fulda mit nasser Hose hinter mir gelassen, als sich eine Dame mit zwei Jungs in die Nische vor mich setzte. Die Dame war extrem dünn, sie trug einen Kampfbürstenhaarschnitt, eine Mischung aus José Mourinho und Renate Künast. Prägend aber war ihr Gesicht: das typische Fuldaer Sparbüchsengesicht.
Das Fuldaer Sparbüchsengesicht zeichnet sich durch militärische Schmallippigkeit aus, es unterscheidet sich vom schwäbischen Sparbüchsengesicht durch einen leichten Oberlippenbartansatz.
Zwischen Fuldaer Sparkassenbüchsen-Lippen passt keine Fünf-Cent-Münze, auch nicht beim Sprechen. Diese stählerne Erotik setzt sich in anderen Körperzonen fort.
Die beiden Jungs und die Mutter hatten noch nicht richtig Platz genommen, da wusste ich bereits, wie sie hießen. Kaum saßen sie auf einer Arschhälfte, begann das Sparbüchsengesicht, kalaschnikowartig ihre Namen zu rufen, bis nicht einmal mehr das Baby mit dem Stoßzahn zu hören war. Die Jungs hießen Joschi und Marius.
Von Joschi und Marius kam kein Laut. Aus Langeweile dachte ich eine Weile darüber nach, warum man ein unschuldiges Kind mit dem Vornamen eines der schlimmsten Sänger strafen konnte, den die Popmusik je hervorgebracht hat. Ausgerechnet dieser Kerl mit dem Sound eines singenden Sparbüchsenschlitzes. Ich stellte mir das Sparbüchsengesicht vor, wie es mit feuchten schmalen Lippen am Lagerfeuer eines Fuldaer Staudamms »Frei-heit, Frei-heit« säuselte, bis sich einer erbarmte, Marius den Zweiten zu zeugen, nur um seine Ruhe zu haben. Der Doppelname im Haus war programmiert.
Von den beiden Jungs im Zug war wie gesagt nichts zu hören. Marius grinste gelegentlich mit schmalen Lippen durch die Lücke zwischen den Lehnen meiner Vordersitze, um mich als Publikum zu gewinnen. Ich gab ihm mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen, und er streckte mir die Zunge raus. »Beim nächsten Mal werde ich sie dir abbeißen«, sagte ich so leise, dass nur er es hören konnte. Da wusste Marius noch nicht, dass er in Fulda den ICE zur Hölle bestiegen hatte.
Ohne Atempause ermahnte das Sparbüchsengesicht Joschi und Marius, den Mund zu halten, obwohl beide kilometerlang keinen Ton von sich gegeben hatten. »Wir machen jetzt ein Spiel. Wer am längsten schweigt, hat gewonnen«, sagte sie. Ich hörte nichts außer dem Rollen der Räder und setzte bei meinem Buchmacher heimlich hundert Euro, dass die Mutter das Spiel nicht gewinnen würde. Prompt giftete sie im Kasernenton: »Der Fernseher bleibt so lange aus, bis ihr Schweigen gelernt habt. Und wenn es acht Tage dauert.«
Joschi und Marius sagten kein Wort, und so setzte wieder das Tröten des Sparbüchsengesichts ein: »Wir machen jetzt ein anderes Spiel. Es heißt der schweigende Mönch.« Nie zuvor hatte ich von diesem Spiel gehört, auch nicht bei Edgar Wallace. Ich befürchtete das Schlimmste. Der schweigende Mönch. Das klang nach unschuldigen Buben im Beichtstuhl.
Obwohl Joschi und Marius weiterhin schwiegen, wiederholte die Mutter ihre Drohung so laut, dass man sie durch den ganzen Waggon hörte: »Wir spielen jetzt der schweigende Mönch.«
Erst nach ungefähr zehn Minuten jungenhaften Schweigens, das pausenlos durch das Sparbüchsengesicht-Gezeter unterbrochen wurde, lüftete sich mir das Geheimnis des schweigenden Mönchs. Das Sparbüchsengesicht aus Fulda hatte einen gottverdammten Sprachfehler. Wir kennen diesen Defekt von den Rheinländern. Sie konnte kein Esceha sprechen. Mit kindlichen Chchch-Lauten zischelte sie, wie wir das aus der Zeit von Günter Netzers Duetten mit Gerhard Delling kennen: Mir gefällt da spielerich überhaupt nichts, aber Tchechien ist heute technich besser.
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