Schabowski, Honecker, Stoph, Hager, Keßler, Herger, Inge Lange hatten die geheimen Stasi-Informationen vom 2. Oktober erhalten, und sie alle spielten innerhalb des von der Staatsmacht perfekt überwachten Raumes an diesem 2. Oktober ihre Rolle. Stand ihnen der Schrecken ins Gesicht geschrieben? Oder entging ihnen das Menetekel an der Wand? Wie sicher waren sie sich der eigenen Sicherheit? »Die Sicherheit«, das wußten sie, ließ die »feindlichen, oppositionellen Kräfte« 88nicht aus den Augen; sie drang bis in den unmittelbaren Umkreis der »bekannten reaktionären kirchlichen Amtsträger und anderer feindlicher, oppositioneller Kräfte« 89wie Eppelmann, Meckel, Schorlemmer vor. Der Schriftsteller Christoph Hein hat später, am 28. Oktober, in der Erlöser-Kirche zu Berlin beim Bekanntwerden schlimmer Gewaltanwendung gegen ein Mädchen gefragt, wie es dazu hatte kommen können, daß Polizisten dieses Kind so demütigten. »Ich habe immer wieder überlegt, warum die Polizisten das taten; und ich fürchte, ich habe die Antwort gefunden. Ich sage, ich fürchte es, weil die Antwort fürchterlich ist: Ich glaube, die Polizisten haben diesem Mädchen das angetan, weil sie sicher waren, daß wir weiter schweigen. Ich glaube, Susanne Böden wurde das angetan, weil man sicher war, wir schweigen wie bisher. Irgendwie sind wir an diesem Mädchen, Susanne Böden, und den anderen schuldig geworden.« 90
Es liegt nahe, daß an der Spitze der gleiche Verhaltensmechanismus funktionierte. Er entstand aus Erfahrungen im Umgang mit der Macht, auch aus Nachkriegserfahrungen, sowie mit einer im Ganzen eben doch gefügigen Masse. Aus der Reihe tanzten die »Republikflüchtigen«, die man abzuschreiben bereit war, und der tapfere Rest, den man im Griff zu haben meinte. Die Klasse mit Bauch wurde mit dem Postulat der absoluten Wahrheiten, das vor ihr aufgerichtet war, zum Schweigen gebracht. Die geradezu ritualisierte Verknüpfung von Kritik, sofern es überhaupt zu Kritik kam, mit einleitendem Bekennen des Positiven zeigt, wie das parteiadministrative System Kritik blockierte. Sie zeigt natürlich ebenso die Nöte derer, die Kritik äußerten.
»Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.« 91Mit diesem Vermerk ermahnte der Minister Mielke die dem ersten und engsten Kreis der Macht Angehörenden zu absoluter Verschwiegenheit. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Sie war eine Gesellschaft geschlossener Kreise, und zwar in einer für moderne Gesellschaften extremen Weise, besonders seit dem 13. August 1961. Zu erklären ist das wohl aus der Abfolge zweier autoritärer Systeme und der in ihnen ausgebildeten Anpassungs- und Mitmachmentalität der nationalsozialistischen Kriegs- wie der Kriegskindergeneration, wobei aus der jugendlichen Restgeneration des ersten autoritären Systems die alternde Aufbaugeneration des nächsten hervorging. 92Dazu kam die Überwachungstätigkeit der Staatsorgane, die sondierten, wo Gefahr bestand, die »feindlichen Kräfte« benannten und versuchten, sie zu isolieren, einzuschüchtern, in die Kreisläufe der geschlossenen Gesellschaft zurückzudrängen, aus denen sie ausgebrochen waren. Der Übergang in eine offene Gesellschaft, der trotzdem zustande kam, wurde getragen von den alternativen Basisgruppen, Gesprächskreisen, Initiativen, aus denen bis Dezember 1989 eine breite Bürgerbewegung und mehrere Parteien hervorgingen, zunächst im Untergrund, dann in der legalen und halblegalen Sphäre kirchlicher Freiräume.
Am Beginn der Jubelwoche, am 2. Oktober, war das »Neue Forum« in seinen Grundlagen geschaffen. 93»Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglied des Neuen Forum zu werden.« 94Die Führung des Neuen Forum als einer parteiübergreifenden Bürgerbewegung appellierte an die Parteibasis der SED, »die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Lande«, ihr »enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung« in die Gesellschaftserneuerung einzubringen. »Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus! Führt die Diskussion in euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs.« 95Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Revolution eine Art Perestroika-Umbau des politischen Systems der DDR in einen Rechtsstaat und der zentralistischen Staatsplanwirtschaft in einen effektiven (marktwirtschaftlich organisierten) volkseigenen Wirtschaftsorganismus mit ökologischer Langzeitperspektive. »Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in einer Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.« 96Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs vom 10. September 97erklärten, unbeirrt davon, daß die Anmeldung auf Zulassung als Vereinigung abgelehnt worden war, ihre Tätigkeit als Bürgerinitiative fortzusetzen, Programm und Statut vorzulegen und die Vereinigung erneut registrieren zu lassen. Auch darüber lag den Hauptverantwortungsträgern am 2. Oktober ein detaillierter Bericht aus der Zentrale der Staatssicherheit vor. 98Gegenwärtig, hieß es sinngemäß, arbeiteten die »Inspiratoren/Organisatoren« des »Neuen Forum« an einem sogenannten Problemkatalog für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR. »Es soll insbesondere ›Lösungsvarianten‹ in den Bereichen Wirtschaft und Ökologie (strategische Änderungen in der Wirtschaftsführung, Teilnahme der Werktätigen an der Lenkung der Wirtschaft, Reduzierung der Umweltbelastungen, Beseitigung des Mißverhältnisses zwischen Preis und Leistung), Wissenschaft, Kultur und Geistesleben sowie Staat (Schaffung eines Rechtsstaats, Reform des Wahlrechts, uneingeschränkte Gewährleistung der Grundrechte, uneingeschränkte Freiheit im Reiseverkehr) enthalten.« 99Als Sprecher werden die Malerin Bärbel Bohley, 100der Leipziger Student Michael Arnold, der Rechtsanwalt Rolf-Rüdiger Henrich und der Biologe Professor Jens Reich sowie andere BürgerrechtlerInnen genannt.
Als erste haben Künstler, andere Kulturschaffende und kirchliche Kreise, dazu die vielgestaltigen Basisgruppen zur Legalisierung und vor allem zur republikweiten Ausbreitung der Bürgerbewegung beigetragen. Der Gründungsaufruf des »Neuen Forum« wurde auf kirchlichen und anderen Versammlungen verlesen, in Basisgruppen erörtert, vervielfältigt, weitergegeben, Unterschriften wurden gesammelt. Die Zeit ist reif . 101Mit dem Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! hatten sich Demonstranten, erstmals am 25. September in Leipzig, zur Bürgerbewegung bekannt, 102von der sie ein Teil waren. Danach wurde die Forderung allmontäglich erhoben, bis das SED-Politbüro, das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium des Innern der DDR am 8. November nachgaben.
In Dresden und Rostock setzten sich Mitglieder der Bezirksvorstände des Verbandes Bildender Künstler am 27. September für die Ziele des »Neuen Forum« ein. 103Die mit 22 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen verabschiedete Rostocker Resolution forderte die Partei- und Staatsführung zum »offenen politischen Dialog« mit allen politischen Kräften des Landes auf und begrüßte ausdrücklich die Tätigkeit des »Neuen Forum«. Die in der Öffentlichkeit wirkungsvollste Solidarisierung mit dem »Neuen Forum« ging aber am 25. September von der Sitzung der erweiterten Sektionsleitung Rockmusik sowie Lied und Kleinkunst aus. Die Teilnehmer beschlossen gegen den Widerstand des Generaldirektors, die Erste Resolution der Rock-Künstler vom 18. September 104auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen zu verlesen. 105Das geschah dann bei Auftritten der Rockgruppen Die Zöllner, Notentritt, Pankow und Silly 106sowie der Liedermacher Wenzel, Mensching, Eger, Schmidt, Riedel und Halbhuber. Sie haben sich nicht zum Schweigen bringen lassen. »Es geht nicht um ›Reformen, die den Sozialismus abschaffen‹, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung den existierenden Widersprüchen gegenüber gefährdet ihn«, heißt es in der Resolution. »Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.« Schließlich: »Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme.« Dann die schwer wiegende Feststellung. »Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns!« 107
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