Es gab kein Sofa, keinen Sessel. Dafür lagen zwei größere Sitzkissen bereit, die total angesagt waren, aus Nappaleder und mit Styroporstückchen gefüllt. Ich schnappte mir eines der federleichten Teile und ließ mich in der Nähe des Klaviers nieder. In einer Ecke des Zimmers wuchs eine Palme bis unter die Decke. Einen Fernseher konnte ich nicht entdecken. Die Einrichtung war schlicht und hatte Atmosphäre.
Mit der Selbstverständlichkeit, die nur jemand haben konnte, der sich in diesem Raum auskannte, nahm Karen sich ebenfalls ein Kissen und pflanzte sich neben mich. Ich stellte mir vor, wie sie mit Andi auf dem Bett lag – und was Mark dazu sagen würde.
Der Plattenspieler, ein Dual, stand auf einer kleinen Kommode, darüber ein Foto von Adorno, dem Minima-Moralia-Philosophen.
Meine Neugier war noch nicht gestillt.
In einer Kiste neben der Kommode waren Andis Platten verstaut. Ich ging hin und wühlte darin. Die Sammlung kam daher wie das Nonplusultra des Jazz. Thelonious Monk, Herbie Hancock, Eric Dolphy, Charles Mingus, Miles Davis, Pharoah Sanders, Archie Shepp, aber auch avantgardistische Sachen von Anthony Braxton, Sun Ra und Ornette Coleman.
Aus der englischen Szene hatte er Platten von Ian Carrs Nucleus und Chris McGregors Brotherhood of Breath. Die Klassikabteilung war mit Karajan-Einspielungen von Mahler, Brahms und Tschaikowsky vertreten. Außerdem gab es Boulez, Schönberg, Cage, Kagel und Stockhausen. Und dann dieses elektrische Jazz-Zeug: Weather Report, John McLaughlin, Larry Coryell und Tony Williams Lifetime. Das Neueste vom Neuesten. Andi war das, was man, das hatte ich bei Jack Kerouac gelesen, einen Hipster nannte.
Aus den Boxen, die diagonal im Raum platziert waren, kam ein Sound, der wie ein Auffahrunfall auf der New Yorker Fifth Avenue klang. Die Bläsersätze gingen drunter und drüber, eine schräge und freie Improvisation von der allerfeinsten Sorte. Eine Frau sang: Take away everything that we own / We can even live without a home / Have all the money, if that is your goal / But you’ll never touch our soul.
»Abgefahren, was ist das?«, fragte ich.
»Centipede, ein Projekt um den britischen Pianisten Keith Tippett. Die Stimme, die du hörst, ist die von Julie Driscoll.«
»Du meinst die Driscoll, die bei The Trinity, der Band von Brian Auger, gesungen hat?«
»Nur dass sie jetzt nicht mehr Driscoll heißt, sie hat Keith Tippett geheiratet.«
Auf dem betont schlichten weißen Klappcover stand lediglich der Titel Septober Energy. Im Innenteil ein Foto der Band. Fast fünfzig Musiker. Ich las die Namen. Sagenhaft, da war die Crème der englischen Jazz-, Rock- und Avantgarde-Szene vertreten: Robert Wyatt, Evan Parker, Louis Moholo und wie sie alle hießen. »Produziert von Robert Fripp«, las ich laut vor.
»Was der bei King Crimson macht, gefällt mir überhaupt nicht.« Andis Ton klang missbilligend. Außer Jazz war ihm nichts gut genug.
Karen schaute auf. »Könnt ihr mal mit eurer Fachsimpelei aufhören, das langweilt. Andi, komponierst du derzeit was?«
Er drehte sich auf dem Schemel in ihre Richtung und lächelte. »Ich habe da eine kleine Melodie, nichts Besonderes, ich arbeite noch dran. Ich hoffe, ich kriege es bis zum Festival hin.«
Mit einem Mal war ich gespannt. »Komm, lass mal hören.«
Er klemmte sich die Haare hinters Ohr. »Es ist noch nicht so, wie ich es mir vorstelle. Es ist noch nicht ... perfekt.«
Ich guckte Andi ratlos an. »Was ist schon perfekt? Das gibt es doch gar nicht, die perfekte Musik, das perfekte Kunstwerk.«
Er schloss die Augen. »Hör dir A Love Supreme an. John Coltrane ist perfekt. Als Instrumentalist und als Komponist. Dahin möchte ich kommen, einmal so etwas zu schreiben.«
Karen bettelte. »Warum spielst du nicht diese kleine Melodie?«
»Der Song ist noch nicht ausgereift«, antwortete er bestimmt.
»Bitte, dann halt nur das, was du bist jetzt hast«, sagte Karen.
Das wirkte.
Andi klappte den Deckel des Klaviers auf. »Ihr müsst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen. Zumindest bis zum Festival.«
Karen und ich erhoben uns von unseren Plätzen und stellten uns links und rechts neben dem Piano auf. Wenn er wirklich eine eigene Komposition hatte, dann wollte ich nie mehr ein schlechtes Wort über ihn verlieren.
Andi setzte an und kam nur drei Noten weit.
Ein schriller Dauerton kreischte durch die Wohnung. Entweder hatte die Klingel einen Defekt, oder jemand klebte mit dem Daumen dran.
Das musste ein Verrückter sein, der so um Einlass verlangte.
Karen und ich schauten uns erschrocken an.
Andi erhob sich und schlurfte zur Tür.
Zwei Minuten später stand Don im Zimmer. Er kam immer dann, wenn es keiner erwartete.
Er atmete hektisch, als sei er gerannt.
»Euch habe ich überall gesucht«, stieß er hervor. Als er wieder Luft bekam, hörte es sich an wie ein asthmatisches Pfeifen.
»Komm wieder runter. Was gibt es denn?«, fragte ich.
»Wo ist mein Mofa?«
»Sorry, ich habe ich mich hier festgequatscht«, antwortete ich.
»Okay.«
»Nun sag schon«, drängte Karen.
»Habt ihr es nicht in der Tagesschau gesehen?«, fragte er.
Andi schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Glotze.«
»Jim Morrison ist tot.«
Don sagte es, als sei der Sänger der Doors ein enger Verwandter.
Für die nächsten Sekunden passierte nichts.
Aber es gab jemanden in dieser stilvoll abgehangenen Musikantenbude, den diese Nachricht wirklich umhauen würde.
Jim Morrison, der Rock-Superstar, der Traum heißer Mädchenphantasien, Coverboy beim Rolling Stone, der Kritikerliebling, der zurzeit in Paris eine Pause vom Musikgeschäft einlegte und Gedichte schrieb, war tot.
Die Hippies hatten ihren letzten Helden verloren.
Karen hatte das Fenster geöffnet und starrte hinaus.
Dann hallte ihr Schrei durch die Nacht.
vier Atom Heart Mother
In jeder Band sollte es jemanden geben, der das Sagen hat, der alles in die Hand nimmt und die Richtung vorgibt. Jede Band braucht einen Chef.
Bei Dreamlight war das Mark. Leider konnte Mark manchmal ein rechter Kotzbrocken sein.
»So werdet ihr nie Rockstars. Ihr müsst euch mehr anstrengen«, schimpfte er. »Gebt alles, was ihr draufhabt!«
Mit verächtlicher Miene warf er die Trommelstöcke in die Ecke. Sie probten seit zwei Stunden, und bislang war nur Mist herausgekommen.
Er legte ein Arbeitstempo vor, bei dem die anderen nicht mithalten konnten. Natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht. Er kloppte den Beat in die Felle, dass es eine Freude war. Hi-Hat, Standtom, Bassdrum, Hängetom und Becken wurden vom Meister virtuos bearbeitet.
Skip war noch nicht so weit. Zum x-ten Mal verpatzte er seinen Einsatz. Paul hinkte ebenfalls hinterher, er schaffte es nicht, sein Gitarrenriff fehlerfrei über die Runden zu bringen. Gero orgelte entnervt vor sich hin.
Warum sie sich auch an einem Monstertrack wie »Atom Heart Mother« von Pink Floyd ausprobieren mussten, war mir ein Rätsel. Das Stück war mehrere Nummern zu groß für sie, es überstieg ihre Möglichkeiten. Bei ihnen klang es verschrobener als jede Art von Space-Rock, die ich kannte. Selbst Ash Ra Tempel hätten gekotzt.
Mark hatte recht, sie mussten alles geben, regelrecht über sich hinauswachsen, sonst würde der Auftritt auf dem Festival ein Desaster werden. Aber dass er seinem Frust freien Lauf ließ, war auch keine Lösung.
Es brachte nur schlechte Schwingungen ins Spiel. Wie nicht anders zu erwarten, war die Stimmung am Boden. Skip stierte stumm in eine Ecke, Paul kämpfte mit seiner Wut. Und Gero verdrehte entnervt die Augen.
Ein Motivationsschub musste her. »Dafür, dass es eure erste Probe ist, klang es gar nicht so schlecht«, sagte ich.
Mark winkte ab. »Du hast doch keine Ahnung.«
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