Judith war schon an der Tür, als ihr einfiel, dass sie ihm ja noch ein Bonbon vorenthalten hatte: „Übrigens, Dr. Mergentheim will die Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks von Schmidt beantragen und der Angeklagte ist einverstanden.“
„Das ist ja ein Hammer. Wer so etwas tut, ist entweder verrückt oder unschuldig.“
„Sag ich doch“, strahlte Judith und ging aus der Tür.
Erst im Treppenhaus kam ihr das Erstaunliche ihrer letzten Bemerkung zum Bewusstsein, und sie fragte sich, warum sie sich auf einmal so sicher schien. Die Schlagzeile hatte sie bereits im Kopf: „LKA-Gutachten erschüttert Mordanklage im Fall Hillner“. Bei Manfred Lachmann würde sie sich damit nicht gerade beliebt machen. Bisher waren sie immer gut miteinander ausgekommen. Wie Dr. Mergentheim hielt auch sie ihn für einen fairen Staatsanwalt.
Diese Meinung wurde auch nicht erschüttert, als kurz darauf Mergentheim anrief: „Stellen Sie sich vor, ich habe soeben Nachricht von Lachmann bekommen. Er hat sich bei der Universität schlaugemacht. Es ist kein Sperma mehr vorhanden. Kein genetischer Fingerabdruck also.“
Judith konnte es kaum fassen: „Wollen Sie damit sagen, die haben alles vernichtet, obwohl sie darauf aus waren, einen Prozess zu führen?“
„Vernichtet nicht, aber nicht sachgemäß aufbewahrt. Die Kühlung wurde mehrfach unterbrochen. Außerdem ist da noch etwas. Es betrifft die Katzenhaare, von denen Sie so beeindruckt waren. Bei Schmidt wurde damals eine rote Decke als Beweisstück Nummer 21 beschlagnahmt. Es handelte sich um die Decke, auf der die Katze immer lag. Halten Sie sich fest: Die Decke ist verschwunden – und die Katze natürlich längst verstorben. Nun lassen sich die Katzenhaare von der Leiche mit denen von Volker Schmidts Katze nicht mehr vergleichen. Eine verdammte Scheiße ist das.“
Was die Katzenhaare anbetraf, so war Judith keineswegs entmutigt: „Unsinn. Es wissen doch bestimmt jede Menge Leute, dass Schmidt eine schwarze Katze hatte und keine getigerte.“
„Und wenn nun jemand behauptet, seine Katze hätte doch ein paar gebänderte Haare gehabt, oder wie das im Gutachten heißt?“
Judith lachte. Bei Katzen kannte sich Mergentheim nicht aus. Wie alle Jäger war er mehr ein Hundetyp.
Aber davon einmal abgesehen kam ihr die ganze Geschichte merkwürdig vor: „Welche Erklärung gibt es denn für das Verschwinden der Decke?“
„Gar keine. Das ist es ja. Das Ding ist einfach weg. Lachmann meint, das Ganze hätte keine Bedeutung, denn die Decke sei ja ursprünglich nicht wegen der Katzenhaare sichergestellt worden, sondern weil sie rot gewesen sei und man ausschließen wollte, dass sie als Ursache für die an Schmidts Hose gefundene Faser infrage komme.“
„So ein Quatsch, ich denke, die Jeansfaser war pinkfarben. Und außerdem wird man doch wohl eine Jeansfaser von der einer Wolldecke unterscheiden können.“
„Dass ich nicht lache“, konterte Mergentheim, „dann denken Sie mal an den Bommel der Folkloretasche.“
In Judiths Kopf klingelten die Alarmglocken: „Glauben Sie, dass jemand an der Beweislage dreht – jemand, der unbedingt recht behalten will?“
„Von Lachmann kann ich mir das jedenfalls nicht vorstellen, aber warten wir’s ab.“ Mergentheims Abschiedsgruß fiel mehr als freundlich aus, nachdem er erfahren hatte, dass der Generalanzeiger morgen Judiths Geschichte über das LKA-Gutachten als Aufmacher drucken würde. „Tschüss, ich freue mich darauf, dass wir uns morgen bei Gericht sehen.“
Überhaupt schien heute Freundlichkeit angesagt. Ganz allgemein und den ganzen Tag. Selbst Robert war wider Erwarten offenbar angesteckt. Keine Frage nach dem gestrigen Abend. Nicht einmal die übliche Feststellung: „Das hat ja lange gedauert.“
Spätestens nach der Mittagskonferenz wusste das ganze Haus Bescheid über die Wende im Fall Hillner. Kaum ein Kollege, der nicht interessiert war. Selbst aus der Wirtschaftsredaktion kamen sie angerückt und belagerten Judiths Schreibtisch. Kein Schwurgerichtsprozess hatte jemals beim Generalanzeiger ähnliches Aufsehen erregt. Die pure Möglichkeit, dass eine Mordanklage schon dem ersten Ansturm der Verteidigung eventuell nicht standhalten könne, lieferte die Basis für eine Flut von Spekulationen, die Judith kaum noch eindämmen konnte. Sie schien sogar Rufius überschwemmt zu haben, denn gegen 18 Uhr erschien er mit drei Flaschen Sekt unter dem Arm. Nicht die übliche Redaktionsbrause, wie Helga anerkennend feststellte. Der Chefredakteur hatte sich in Kosten gestürzt. Judith war die Einzige, die nicht mittrank. Ein wenig zollte sie noch immer ihren Tribut für die letzte Nacht. Dennoch stimmte sie dem Vorschlag der Kollegen zu, nach Redaktionsschluss den Abend – wie so oft – mit einem Wein in der Kantine zu beschließen. Die meisten Redakteure gingen nach Feierabend nicht direkt nach Hause. Es bedurfte immer einer Weile, um den Stress abzubauen, gemeinsam die gerade fertiggestellte Ausgabe zu diskutieren und vor allem auf die Konkurrenzzeitungen zu warten, die die Straßenverkäufer abends in den Kneipen anboten.
Die Kantine war in Wirklichkeit eine kleine Pizzeria unten im Gebäude des Generalanzeigers. Sie wurde so genannt, weil die meisten Redakteure hier zu Mittag oder zu Abend aßen. Annabella, die sizilianische Wirtin, kochte selbst und recht gut, obwohl manche ihrer Zusammenstellungen immer wieder Anlass zu Frotzeleien gaben. Sie nahm’s nicht krumm. Zwischen ihr und den Generalanzeiger-leuten herrschte ein freundschaftliches Verhältnis. Beim letzten Streik war sie sogar mit Wein und Bier vor den Toren der Druckerei erschienen – sicherlich ein eher von gesundem Geschäftssinn denn von gewerkschaftlichen Idealen getragener Solidaritätsbeitrag. Manche Redakteure rührte er jedoch so tief, dass sie ihr sogar die nächste Preiserhöhung ohne mit der Wimper zu zucken verziehen.
Obwohl nach Redaktionsschluss oft acht bis zehn Redakteure gemeinsam bei Annabella ihren Absacker tranken, gingen an diesem Abend nur Judith, Helga und Robert hinunter in die Kantine. Uli Sol, der ursprünglich auch mitkommen wollte, wurde durch ein brennendes Lagerhaus im Hafen davon abgehalten. „Polizeireporter ist ein toller Job“, meinte er, bevor er sich mit einem Fotografen auf die Socken machte, „man verdient viel Geld und hat nie Zeit, es auszugeben.“ Diese Art von pfiffiger Gelassenheit war es, die das Arbeiten mit ihm so angenehm machte. Ein beliebter Kollege ohne jegliche Allüren, niemals launisch und über einen ausgesprochen trockenen Humor verfügend. Bevor Uli Sol – kein Mensch wusste wie und warum – irgendwann bei der Zeitung landete, studierte er Theologie. Für einen Polizeireporter sicherlich eine merkwürdige Vorbildung. Der Generalanzeiger wusste jedoch den unschätzbaren Vorteil, dass Sol auch bei Kirchentagen hervorragend einsetzbar war, durchaus zu würdigen. Witzeleien über diese gelegentliche Art der Fremdarbeit nahm Uli ebenso grinsend zur Kenntnis wie den Jux, dem er sich üblicherweise ausgesetzt sah, wenn die Kollegen ihn als Torwart für sportliche Niederlagen seines Fußballvereins verantwortlich machten. Ein Mensch, der in sich zu ruhen schien.
An diesem Abend aber wirkte er nicht ganz so gelassen, wie man es sonst von ihm gewohnt war. Er hätte offenbar gerne noch mit Judith über den Fall Hillner diskutiert. Die Tatsache, dass er seinerzeit das Gutachten des Physikers Dr. Martin Mundt in seinem Bericht als absolut überzeugend dargestellt hatte, machte ihm zu schaffen. Obwohl Volker Schmidt bereits inhaftiert war, als Staatsanwaltschaft und Mordkommission ihre Sensation vor der Öffentlichkeit ausbreiteten, bedrückte ihn der Verdacht, möglicherweise durch unkritisches Verhalten Schaden angerichtet zu haben.
Judith hatte ihn zu beruhigen versucht: „Schau mal Uli, Journalisten können unmöglich wissenschaftliche Erkenntnisse überprüfen. Nicht einmal das Gericht kann das. Darum haben ja die Gutachter leider Gottes eine solche Macht. Du kannst mir glauben, selbst Schmidts Verteidiger hat sich von den Ergebnissen der Laser-Mikrosonden-Massenanalyse genauso überzeugen lassen, wie alle anderen auch. Er hat nur weitergebohrt, weil das nun einmal seine Aufgabe ist. Außerdem ist er ein schlechter Verlierer. Überhaupt – wer sagt dir eigentlich, dass die Sache wirklich so läuft, wie Dr. Mergentheim sich das vorstellt? Vielleicht zieht ja auch das Landeskriminalamt den Kürzeren.“
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