„Woher wollen Sie wissen, dass sie schön war, wenn Sie ihr nie begegnet sind?“
„Trauen Sie mir etwa nicht?“ Morgenthal lachte – auf eine sympathisch offene Art, wie Judith fand. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch schöne Zähne.
„Das sollten Sie aber. Das Aussehen des Opfers ist schließlich kein Geheimnis. Oder haben Sie vergessen, dass Sie noch zur Prozessankündigung in der letzten Woche ein Bild von Daria veröffentlicht haben? Ich bin ein eifriger Leser des Generalanzeigers und werde in den nächsten Wochen noch eifriger werden.“
„Sind Sie wirklich so sehr an Daria Hillner interessiert?“, fragte Helga.
„Nicht unbedingt an Daria Hillner, aber an dem Prozess. Stellen Sie sich vor, ein Mensch, der in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelebt hat, dem Sie vielleicht, wenn auch unbewusst, beim Brötchenholen begegnet sind, wird plötzlich zum Mörder. Eine Vorstellung, die ganz automatisch Furcht und Mitleid erregt – wie in einer griechischen Tragödie. Man kann sich der Faszination des Grauens meistens nur schwer entziehen. Sie haben doch sicher auch Lessings Hamburgische Dramaturgie gelesen.“
Ein kulturelles Stichwort, auf das Robert automatisch reagierte – wie ein Pawlowscher Hund: „Dann wird es dich sicher interessieren, dass Volker Schmidt vermutlich unschuldig ist.“
Judith nahm Roberts Einmischung übel. Wieso maßte er sich an, Schlussfolgerungen aus Fakten zu ziehen, die er nur aus dritter Hand kannte?
Michael Morgenthal zog die rechte Augenbraue in seinem hageren Gesicht hoch, in das sich tiefe Falten eingekerbt hatten. Judith ertappte sich bei der Überlegung, wie alt dieser Mann wohl sein mochte, 40, vielleicht sogar 50? Warum interessierte sie das überhaupt?
Seine eisblauen Augen hatten sich wieder auf sie fixiert: „Ist das wahr? Dann wird dieser Prozess ja noch spannender als ich dachte. Sie müssen mich ständig auf dem Laufenden halten.“
„Sagten Sie nicht, Sie seien Generalanzeiger-Leser?“ wehrte Judith halbherzig ab und nippte an ihrem Frascati. „Außerdem ist die Verhandlung öffentlich.“
„Das schon, aber stundenlang im Gerichtssaal zu sitzen, dazu fehlt mir die Zeit. Und außerdem: Denken Sie, ich gebe mich allein mit der Zeitungslektüre zufrieden, nachdem ich Sie kennengelernt habe? Auch mir als journalistischem Laien ist klar, dass Reporter niemals alles schreiben können, was sie wissen. Und genau an diesen unveröffentlichten Details bin ich interessiert. Ich glaube, wir werden uns in Zukunft ganz häufig treffen.“
„So, glauben Sie.“ Judiths Ton war etwas harsch. Sie stürzte den beachtlichen Rest in ihrem Weinglas so heftig in sich hinein, als handele es sich um Wasser.
Zu ihrer Überraschung lachte Robert: „Komm Schatz, was hast du denn auf einmal? Normalerweise bist du doch immer froh, wenn du jemanden hast, mit dem du stundenlang deine Fälle bereden kannst. Michael werden wir ohnedies nicht mehr los. Der ist ja nicht einmal durch eine vernichtende Kritik abzuschrecken.“
Judith fühlte sich, als habe sie selbst den allerletzten Strohhalm verloren, an den sie sich klammern konnte. Die eisblauen Augen in dem Gesicht auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen.
„Ich hoffe, Sie lassen mich nicht einfach im Regen stehen, nur weil der Mann in ihrem Leben nicht viel von mir und meiner Arbeit hält?“ Morgenthals Stimme klang rau, angekratzt von unzähligen Gauloise, die er offenbar eine an der anderen anzustecken pflegte. Judith erschien das alles wie aus einem kitschigen Film. „Das kann doch nicht wahr sein“, dachte sie wütend.
Als Annabella nunmehr rigoros auf ihrem Feierabend bestand und sich nicht einmal mehr auf einen einzigen Espresso einlassen wollte, war es Judith ganz recht. Was geschah hier eigentlich – mit Robert, mit ihr?
„Mein lieber Scholli“, flüsterte ihr Helga in ihrer direkten Art beim Herausgehen zu, „bist du dir eigentlich klar darüber, was hier vorgeht?“ Judith zuckte die Achseln. Helga schnalzte mit der Zunge und schüttelte ihr weises Haupt: „Menschenskind, da macht dir ein Mann Avancen, den keine Frau von der Bettkante schubsen würde, und ihr merkt es nicht einmal – du und dein schlauer Robert.“
Die beiden, nach Helga Webers unmaßgeblicher Meinung so Ahnungslosen, legten den Katzensprung von der Kantine bis zu Judiths Wohnung schweigend zurück. Robert hatte offenbar nicht den leisesten Zweifel, dass er in dieser Nacht bei Judith willkommen war. Schließlich konnte er nicht mehr Auto fahren. Damit schien ihm der Zugang zu seiner eigenen Wohnung quasi automatisch verbaut. So einfach war das – unausgesprochen, aber doch verabredet.
Die Katzen quäkten bereits vor der Korridortür und hatten sich für ihre Vernachlässigung bitter an Judith gerächt. Zwei Saftgläser aus dem Küchenregal lagen zersplittert am Boden. Robert goss sich noch einen Cognac ein, während Judith die Scherben auffegte und die Zimmertiger fütterte.
Später, im Bad, fühlte sie eine kleine, hässliche Genugtuung. Es war ihr eingefallen, dass sie gestern neue Bettwäsche aufgezogen hatte – Satinbettwäsche, die Robert nicht ausstehen konnte, weil sie ihm zu fludderig war. Warum diese Nickeligkeit?
Robert hatte ihr ebenfalls einen Cognac eingeschüttet und eine Zigarette angezündet. Er erwartete sie damit im Schlafzimmer. Sie fühlte sich ein bisschen beschämt, als er sie sanft küsste und zu sich aufs Bett zog.
In dieser Nacht schliefen sie miteinander und ihre gegenseitigen Berührungen hatten die gewohnte Wirkung. Auf ihre Körper jedenfalls konnten sie sich verlassen. Die biochemische Reaktion setzte prompt ein. Als sie nachließ, hatte sich neben der körperlichen Befriedigung auch jenes Zusammengehörigkeitsgefühl wieder eingestellt, das mit dem Auftritt von Michael Morgenthal für die letzten beiden Stunden unterbrochen gewesen war. „Wenn du möchtest, kannst du ja morgen früh länger schlafen“, schlug Judith vor, die stets um 9 Uhr im Gericht sein musste, während für Robert die Redaktionszeit frühestens um 11 begann.
„Nein“, brummte er, und rollte sich in seiner typisch embryonalen Schlafhaltung zusammen, „nein, mein Schatz, ich hole die Brötchen.“
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.