Wer nicht um diese Zeit? Rufius war keiner von denen, bei denen man lange antichambrieren musste und die ihre persönliche Bedeutung daraus rekrutieren, dass sie angeblich niemals Zeit haben. Wenn er nicht gerade wirklich durch andere Gesprächspartner blockiert war, oder der geheiligten Tätigkeit des Leitartikelschreibens nachging, konnte man jederzeit bei ihm vorsprechen. Tatsächlich geschah das allerdings nur selten, denn die Redaktion hielt es gewöhnlich eher mit jener sprichwörtlichen Untertanenthese: Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst. Außerdem war Rufius während der Hauptproduktionszeit nach der 17-Uhr-Konferenz ohnedies ständig in den Redaktionsräumen anzutreffen. Dann hielt es ihn nicht in seinem ruhigen Büro. Ausdrücklich zurate gezogen wurde er allerdings nur in Ausnahmefällen. Er ließ gewöhnlich seinem Team freie Hand, und das war auch von der eigenen Kompetenz ziemlich überzeugt. Journalisten haben das so an sich. Sie leiden nicht gerade an Selbstunterschätzung. Obrigkeitsdenken liegt ihnen überhaupt nicht. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass sie es gewohnt sind, den Mächtigen auf die Finger zu schauen – und auch manchmal zu klopfen. Die leider häufig mit dieser an sich gesunden Einstellung zur Macht verbundene Einbildung, der Angelpunkt des Geschehens zu sein, war beim Generalanzeiger glücklicherweise nicht groß verbreitet. Vielleicht lag das auch ein bisschen an der Art von Rufius, der immer wieder predigte: „Wir machen keine Trends, wir können höchstens vorhandene Trends verstärken.“
Judith versank in dem riesigen Ledersessel vor seinem Schreibtisch. Während er Kaffee orderte, zündete sie sich eine Zigarette an. Als Pfeifenraucher hatte er nichts dagegen, wenn auch während der beiden täglichen Konferenzen merkwürdigerweise immer noch das Rauchverbot in Kraft war, das sein seit drei Jahren pensionierter Vorgänger verhängt hatte. So haben auch moderne Zeitungen eben ihre Traditionen.
Judith hielt das Gutachten von Dr. Steiner-Wiesemann fest unter den Arm geklemmt. Sie wusste, Rufius würde es nicht lesen wollen. Dazu war auch gar keine Zeit, wenn der Artikel morgen erscheinen sollte. Also referierte sie: „Frau Steiner-Wiesemann ist hoch renommiert. Staatsanwalt Lachmann selbst hat sie einmal als die ,Päpstin der Spurenkunde‘ bezeichnet. Außerdem hat das Landeskriminalamt weder die Aufgabe noch ein berechtigtes Interesse daran, einen Schuldigen herauszupauken. Es muss also etwas dran sein an ihren Ausführungen.“
„Denken Sie denn, dieser Volker Schmidt ist unschuldig?“
„Das will ich nicht sagen“, gestand Judith, „dafür weiß ich noch nicht genug über die anderen Indizien. Ich meine nur, der angeblich so todsichere, wissenschaftliche Beweis, der ihn nach fünf Jahren hinter Gitter brachte, ist im sechsten Jahr nach der Tat keineswegs unumstritten.“
„Okay, was meint denn diese ... wie heißt sie noch?“
„Steiner-Wiesemann, Dr. Erika Steiner-Wiesemann. Sie geht davon aus, dass die Rückschlüsse, die der Physiker aus seiner Analyse zieht, falsch sind. Sie behauptet sogar, dass er die fundamentalsten Gesetze der Spurenkunde missachtet habe.“
„Steht das wörtlich so in diesem Gutachten?“
„Ja, und es wird auch belegt.“
„Ist ja interessant. Haben Sie ein paar Beispiele parat?“ Rufius schien schon jetzt Feuer und Flamme. Judith erzählte ihm, dass die Gutachterin des Landeskriminalamtes ihrem Kollegen geradezu eklatante Fehler nachweise: „Da ist von einer blauen Wollfaser vom Bommel einer Folkloretasche die Rede, die auf der Leiche lag. Steiner-Wiesemann hat festgestellt, dass die Tasche jedoch komplett aus Kunststoffgarnen gefertigt wurde.“
„Aber das wäre ja abenteuerlich fahrlässig.“
„Das kann man wohl sagen, es ist jedoch noch längst nicht alles. Alle Spuren, die Dr. Mundt mit dieser Laser-Mikrosonden-Massenanalyse ausgewertet hat, sind schon 1982 unter die Lupe genommen worden. Steiner-Wiesemann war damals der Meinung, sie seien nicht dazu angetan, Volker Schmidt zu überführen – und sie ist es immer noch.“
„Und wie belegt sie das?“, erkundigte sich Rufius.
Judith breitete nur zu gern die Ergebnisse ihrer nächtlichen Studien aus: „Da sind zum Beispiel die beiden Katzenhaare, die an der Leiche von Daria Hillner festgestellt wurden.“
„Hatte Schmidt eine Katze?“
„Ja, eine schwarze. Die Haare an der Toten aber stammen von einer Tigerkatze. Katzenhaare kann man sich überall einfangen, in der Reinigung, oder auch anderswo. Ich bin überzeugt, wenn Ihr Anzug von Spurenkundlern untersucht würde, fänden die bestimmt Haare von Mao und Li – nur weil ich jetzt hier bei Ihnen sitze. Oder möglicherweise könnte man sogar noch andere finden, die Sie von irgendwo her eingeschleppt haben. Es reicht, wenn das Kleidungsstück eines Katzenhalters neben dem Ihrem hängt – beispielsweise neben Ihrem Mantel in der Theatergarderobe oder im Restaurant.“
Judith dozierte nicht allein über Erkenntnisse von Erika Steiner-Wiesemann. Schließlich war sie selbst Expertin? auf diesem Gebiet und durfte sich im Gerichtssaal nie neben einen Kollegen setzen, der an einer Allergie gegen Katzenhaare litt. Es bestand sonst Gefahr, dass er einen Asthma-Anfall bekam.
„Aber da war doch noch von einer Jeansfaser die Rede. Was ist denn mit der?“
Kein Wunder, dass Rufius sie ausgerechnet auf dieses schlagzeilenträchtige Indiz ansprach. Das berühmte Zwölftausendstel dieser Faser sollte schließlich Volker Schmidt überführen. So hatten Reiser und Lachmann es vor rund einem Jahr in der Pressekonferenz dargelegt, und so hatte es nicht nur Uli Sol geschrieben.
„Gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Auch dafür hat das Landeskriminalamt eine Erklärung. Die Faser könne über den Kinderwagen der Hillners an Schmidts Kleidung geraten sein. Daria stellte ihn häufig im Hausflur, direkt unter den Briefkästen ab. Jeder Mithausbewohner könnte leicht damit in Kontakt gekommen sein.“
„Aber wurde die Faser nicht an der Innenseite seiner Hose gefunden?“, gab Rufius zu bedenken.
„Das ist zwar richtig, aber auch dafür gibt es laut Steiner-Wiesemann etliche Erklärungen. Beispielsweise sei es durchaus möglich, dass Volker Schmidt sein Hemd in die Hose gestopft und so die Faser nach innen übertragen habe. Außerdem ist die Gutachterin felsenfest davon überzeugt: Hätte der Katzenhalter Volker Schmidt, nachdem er Daria Hillner vorher mit einem Messer die Kleider vom Leib getrennt hatte, Kontakt mit der nackten Leiche gehabt – wie Dr. Mundt schlussfolgert – so hätten sich zwangsläufig einerseits an der Leiche wesentlich mehr als zwei Katzenhaare befinden müssen und andererseits an seiner Kleidung wesentlich mehr pinkfarbene Fasern von Darias Jeanshose.“
„Was meinen Sie? Ist das nicht Haarspalterei?“ Rufius zeigte sich erstmals skeptisch. Jeansfasern und Katzenhaare überstiegen sein Vorstellungsvermögen. Judith konnte das nachvollziehen: „Ich weiß auch nicht“, räumte sie ein, „aber da gibt es so vieles, was ich mir noch nicht erklären kann. Beispielsweise wurde nicht ein einziger Fingerabdruck von Volker Schmidt in der Wohnung der Hillners gefunden, obwohl sich der Täter dort längere Zeit aufgehalten haben muss. Die Messer stammen aus der Penthouse-Küche und die Bänder, mit denen die Tote an die Bettpfosten gefesselt war, gehören zu Tennisschuhen von Julius Hillner, die offensichtlich auf der Terrasse abgestellt waren.“
Rufius schüttelte den Kopf. „Unglaublich“, sagte er und fügte vorsichtig fragend hinzu: „Ist das eine Exklusivgeschichte?“
„Klar.“ Judith wusste nun, dass sie gewonnen hatte. „Deshalb wollte ich doch vorher mit Ihnen sprechen. Wenn sich jemand damit in die Nesseln setzt, dann nur wir ganz allein.“
„Na, dann an die Arbeit.“
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