1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Eine Szene aus Feuchtwangers Roman »Exil« schießt mir durch den Kopf: »Sind sie nicht«, heißt es da von zwei streitenden Berlin-Emigranten in Paris, »wie jene Schatten, welche Odysseus im Hades aufsucht? Sie treiben es fort dort unten, wie sie es als Lebende getrieben haben, und hassen und lieben einander wie damals.« 71
Draußen in dem weiten sonnigen Innenhof des Fabrikkomplexes an der Spandauer Streitstraße beenden die vier Arbeiter ihre Verschnaufpause. Während sie wieder Last auf Last in den blauen Transporter hieven, stehen wir im ersten Stock vor dem einzigen nicht verdunkelten Fenster und kramen in dem Schatz, den Gero Gandert aus dem Keller unter dem Sunset Boulevard nach Berlin gerettet hat.
Wir blättern in Schmähschreiben, die Paul Kohner vor sechzig Jahren als »Jude mit amerikanischem Pass« erhielt, wir finden Vertragsentwürfe und Stapel von Telegrammen zu Projekten, von denen, wie in dieser Branche üblich, die meisten nie realisiert wurden, ein paar aber Filmgeschichte machten. Zwischen Eisenbahn- und Schiffstickets, zwischen Rechnungen von Luxushotels in Wien und Budapest, London und Paris, zwischen Zeitungsausschnitten und Speisekarten von Transatlantik-Dampfern stoßen wir auf Briefe von Freunden und Verwandten, die über das Leben in den Lagern und von den bürokratischen Schikanen des Exils berichten.
Das Durcheinander von banalen und außergewöhnlichen Papieren wirkt so kunterbunt, wie es das Leben war, dessen Zeugnisse in den achtundsiebzig Umzugskisten lagern. Memos und das Exposé für einen amerikanischen Luis-Trenker-Film stecken neben einem Hilfsschreiben vom Mitteilungsblatt der israelitischen Kultusgemeinde in Teplitz-Schönau vom 23. Februar 1938: »Ich möchte Sie sehr höflich bitten, die Zeitung einigen prominenten Amerikanern zukommen zu lassen ...« Und ein Brief Kohners an seine Mutter, die sich weigert, Europa zu verlassen, liegt auf einem Telegramm mit den persönlichen Daten eines Mannes, der dringend ein Visum für die USA benötigt - an den Rand hat der Empfänger lapidar mit Bleistift gekritzelt: »Ask, what sort of affidavit he wants me to write ...«
»Kohner war in Berlin bekannt wie ein bunter Hund«, sagt Gandert. »Als er dann Mitte der dreißiger Jahre zurück nach Hollywood ging, haben sich Hunderte von Leuten an ihn gewandt und um Hilfe gebeten.«
Paul Kohner hat sie gewährt, so gut er konnte. Das Schicksal wollte, dass er es besonders gut konnte. Nachdem Laemmle überraschend die Universal verkauft hatte, kündigte Kohner und wechselte zu Metro-Goldwyn-Mayer . Dort Fuß zu fassen gelang ihm nicht recht. Als 1936 der legendäre MGM-Produzent Irving Thalberg, Vorbild für F. Scott Fitzgeralds Helden Monroe Stahr in »The Last Tycoon«, eine eigene Firma plante, wollte er Kohner engagieren - doch ein paar Wochen später war Wunderkind Thalberg, gerade siebenunddreißig Jahre alt, tot.
In dieser Zeit entdeckte Kohner bei einem Spaziergang über den Sunset Boulevard ein soeben fertiggestelltes Gebäude und beschloss kurzerhand, MGM zu verlassen und sich selbständig zu machen - nicht als Produzent, sondern als Agent.
Er mietete das Büro und begab sich auf die Suche nach Klienten. John Huston war der erste, sein Vater Walter Huston der zweite. Binnen Jahresfrist war die Reihe der Kohner-Klienten lang, erlesen und - trotz einiger prominenter Amerikaner - sehr europäisch.
Eine Liste aus den frühen vierziger Jahren verzeichnet etwa neben den Hustons Curtis Bernhardt und Dolores del Rio, Curt Bois und Vicki Baum, Greta Garbo und Gottfried Reinhardt, Robert Siodmak und Marlene Dietrich, Robert Taylor und Hedy Lamarr, Erich von Stroheim und Peter Lorre, Pola Negri und Lion Feuchtwanger, Fritz Lang und Luise Rainer, Myrna Loy und Paul Henreid, Felix Bressart und Salka Viertel, Alexander Granach und Szöke Szakall, Albert Bassermann und Robert Stolz, Helene Thimig und Ernst Deutsch, Maurice Maeterlinck und Dolly Haas.
Nach zwei Jahrzehnten im Hollywood-Geschäft verfügte Kohner über hervorragende Verbindungen, die nicht nur seiner Agentur und seinen erfolgreichen Klienten zugute kamen. So findet sich unter dem Datum vom 12. November 1940 eine saloppe Notiz an den Agenten-Kollegen Saul Collins, dem Kohner den Regisseur des »blauen Engel« für ein Comeback andient:
»Dear Saul, I just had a brainstorm, a wonderful man for your picture who could be gotten with a very interesting proposition, would be Josef von Sternberg ...«
Die meisten Briefe, Telegramme und Inter-Office-Memos in diesem Karton aber handeln nicht von Personen, die in der Filmkolonie schon einen Namen hatten. Sie zeugen vielmehr von den unermüdlichen Bemühungen Paul Kohners, filmunerfahrene Europa-Flüchtlinge zu vermitteln. Nach dem »Anschluss« Österreichs und dem Münchner Abkommen begann jedoch der Ansturm von Hilfesuchenden, seine Mittel und Möglichkeiten zu überschreiten. Wenn er auch über sechzig Affidavits unterzeichnete, 72mit denen er sich verpflichtete, persönlich für den Unterhalt der Exilanten aufzukommen - im Ernstfall wäre er dazu weder in der Lage gewesen noch hätten die meisten Ankömmlinge diese Art von individuellen Almosen gewollt.
Paul Kohner versammelte deshalb nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Filmkünstler aus dem deutschen Sprachraum um sich, Klienten wie Nicht-Klienten: Ernst Lubitsch, Billy Wilder und Henry Koster, Gottfried und Wolfgang Reinhardt, Charlotte und William Dieterle, Mia und Joe May, Salka und Berthold Viertel, Conrad Veidt und Walter Reisch, Fritzi Massary und Erich Charell. Gemeinsam gründeten sie Anfang Oktober 1939 den European Film Fund , 73eine gemeinnützige, also auch steuerbegünstigte Organisation, in deren Kasse die Spitzenverdiener unter den Emigranten monatlich einzahlten, um das Überleben der weniger Erfolgreichen zu ermöglichen - die wiederum, sobald sie Arbeit gefunden hatten, sich an dem Unterhalt der Nachfolgenden beteiligen sollten. 74
»Die Neuankömmlinge zogen in kleine Bungalows und Appartements ein. Sie waren begierig darauf, mit der Arbeit zu beginnen, obwohl sie keine klare Vorstellung hatten, was man von ihnen erwartete«, schreibt Frederick Kohner in »Der Zauberer vom Sunset Boulevard«: »Hoffnungsvoll und arbeitseifrig erschienen sie im Büro meines Bruders und warteten dort in ihren dicken Anzügen, gestärkten Hemdkragen und wetterfesten Schuhen.« 75
»Telefonlisten, Aktenvermerke - Kohner hat einfach alles aufgehoben. Wann ihn wer aufsuchte oder anrief, das kann man auf die Stunde genau feststellen«, sagt Gandert, der Filmbesessene, mit leuchtenden Augen: »Jeder seiner Schritte lässt sich verfolgen. Wir haben allein Briefe von mehr als einem halben Tausend Personen. Und über dreihundert Manuskripte, viele unbekannt und unveröffentlicht.«
Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne, und der abgedunkelte Lagerraum versinkt im Zwielicht. Gandert und ich schleppen die beiden Kartons von dem Tisch am Fenster zurück zu dem Regal im hinteren Teil der Halle und stellen sie an ihren Platz zwischen den anderen Umzugskisten.
Der Weg hinaus führt wieder vorbei an altertümlichen Maschinen, an Schränken mit Kostümen und Regalen, in denen silberne Filmrollen lagern. Neben ein paar bunten Torsi, über denen durchsichtige Plastikplanen wie Regenhäute hängen, bleibt Gandert abrupt stehen.
»In dem Nachlass findet sich unendlich viel über das Verlöschen der jüdischen Kultur in Deutschland und Osteuropa ...« Gedankenverloren rückt er seine Brille mit Goldrand zurecht und streicht dann über den verzerrten Kopf eines Puppentorso, bei dem es sich entweder um Asta Nielsen oder um Ringelnatz handeln soll. »Manchmal denke ich mit Wehmut darüber nach, dass ich längst auf dem Friedhof liegen werde, wenn in zahllosen wissenschaftlichen Arbeiten aus diesem Material zitiert wird ... Denn aus dem, was Kohner zusammengetragen hat, lässt sich eine exakte Landkarte des Exils zeichnen.«
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