9. November - ich war dabei!
Zweites Kapitel
»Seit fünfzig Jahren stehe ich als unbezahlter Statist auf der Bühne der Weltgeschichte.«
Abschied vom Kurfürstendamm• An einem sonnigen Vormittag im August 1931 unternimmt Paul Viktor Falkenberg einen Spaziergang durch den Berliner Westen, an dessen Ende nichts mehr in seinem Leben sein wird, wie es war.
Auf den Bürgersteigen herrscht das alltägliche geschäftige Treiben, auf den Terrassen der Cafés bleibt kein Tisch frei. Die Welt scheint in Ordnung. Kaum etwas im gutbürgerlichen Straßenbild deutet daraufhin, dass es ein Alltag am Rande des Abgrunds ist. Wohlstand, nicht wirtschaftliche Not zeigt sich auf den Boulevards, und doch muss inzwischen bald jedes zweite Gewerkschaftsmitglied stempeln gehen. 106
Wie die meisten, die mit ihm auf dem Ku'damm promenieren, weiß der achtundzwanzigjährige Paul Falkenberg von den großen politischen Auseinandersetzungen, die der ersten deutschen Demokratie den Garaus zu machen drohen, nur aus zweiter Hand. In einer Fabrik hat er nie gearbeitet, Wahlveranstaltungen besucht er nicht, erst recht keine der Nazis. Den Völkischen Beobachter oder den Angriff in die Hand zu nehmen, käme ihm nie in den Sinn. Dafür liest er so gut wie jedes Buch, das der fortschrittliche Malik-Verlag herausbringt.
Seiner »linken« Grundeinstellung zum Trotz lebt der junge Mann, einer der ersten »Tonfilm-Schnittmeister« Deutschlands, in einer alltagsfernen, unpolitischen Welt. Er führt die Existenz eines typischen Intellektuellen der Weimarer Republik. Sein Berlin ist die Kulturkapitale Europas, tonangebend in Literatur, Theater und Film, eine Metropole der Technik und der lockeren Sitten, grell und schrill, spannend und hektisch, volkstümlich und snobistisch, lokalpatriotisch und kosmopolitisch - ein Pflaster, auf dem man, wie Elias Canetti sich erinnert, »keine zehn Schritte« ging, »ohne jemand zu begegnen, der berühmt war«. 107
Draußen in den Arbeiter-Vorstädten aber herrscht bereits die Gewalt. Nazis und Kommunisten liefern sich Saalschlachten, SA-Trupps überfallen wehrlose Passanten, weil sie »rassefremd aussehen«, Woche für Woche fordern Straßenkämpfe Schwerverletzte und Tote. Der uniformierte Mob schickt sich an, die Republik zu zerstören, während die demokratischen Parteien hilflos den Rückzug üben. Einen mysteriösen Schuldigen für die soziale Misere haben die völkischen Horden längst ausgeguckt: die »jüdische Weltverschwörung«. Keiner, der von ihr faselt, weiß so recht, was oder wer das eigentlich sein soll; doch das hindert ja nicht, den Nächstbesten zu vermöbeln, der daran beteiligt sein könnte, einen von 500 000 Sündenböcken unter den 65 Millionen deutschen Bürgern, 108den Gemüsehändler mit dem dunklen Teint, den Arzt mit dem »ungermanischen« Namen zwei Straßen weiter, beliebige Passanten, deren - »jüdische« - Nase einem nicht passt.
Falkenberg findet das martialische Auftreten und die hasserfüllten Parolen der Nazis eher komisch, ihre rassistischen Ideen verschroben, ihr Brutalo-Gehabe lächerlich: »Worin ich mich ungemein getäuscht habe«, wie er an diesem Morgen auf dem Ku'damm am eigenen Leibe erfahren muss.
Plötzlich umringen ihn fünf Braunhemden. Der Nazitrupp ist mit Schlagstöcken aus dickem Malakka-Rohr bewaffnet.
»Warum hauste nicht ab nach Jerusalem!« schreit der bullige Anführer, ein uniformiertes Exemplar aus dem Bilderbuch der Brutalität, an das sich Falkenberg noch ein halbes Jahrhundert später mit fotografischer Genauigkeit erinnern wird; und auch daran, dass die Fahne seines Gegenübers weniger mit Politik als mit Alkohol zu tun hatte.
Die Nazis, etwas jünger als ihr Opfer, beginnen auf Falkenberg einzuprügeln. Keiner der zahlreichen Zuschauer kommt ihm zu Hilfe, viele Passanten zeigen Sympathie mit dem Schlägertrupp. Das ist es, was Falkenberg mehr schmerzt, als die Hiebe, die auf ihn einprasseln.
Ein Schlag trifft seinen Hut, er rollt auf die Straße. Automatisch läuft Falkenberg hinterher, lauthals um Hilfe rufend. »Das war mein Glück«, meint er später, »denn die Brüder blieben damals noch fern vom Damm, die trauten sich nicht aus dem Schatten der Bäume und Hauseingänge weg.«
Kaum hat er seinen Hut aufgehoben, hält ein Taxi neben ihm. Der Fahrer öffnet den Schlag: »Ick kenn' det schon. Wenn ick hier Jeschrei höre: Polizei, Polizei, komm ick rum, dann weeß ick, dass hier wieder so 'n Ding läuft, und ick krieg' gleich 'ne Fuhre.«
Frühe Fluchten• An diesem Tag hat Paul Falkenberg beschlossen, Deutschland zu verlassen. Wenige nur spürten die heraufziehende Gefahr, und von diesen wenigen wiederum waren die meisten politisch so engagiert, dass sie nicht Flucht, sondern Gegenwehr für geraten hielten. Die Mehrheit der Emigranten in spe hingegen sah die Situation, sofern sie sich überhaupt Gedanken machte, gänzlich undramatisch. Im Lichte aufgeklärten Denkens schien die erste deutsche Republik, seit Monaten am Rande des Bürgerkriegs, 109durchaus noch eine Chance zu haben, waren die Nazis doch nicht mehr als ein Haufen armer Irrer mit einem Größenwahnsinnigen an der Spitze. Allein schon ihre heiße Liebe zu Uniformen bezeugte, dass sie Politik mit Mummenschanz verwechselten. Nur folgerichtig feierten, so jedenfalls kolportiert es Marianne Hoppe, der junge Max Horkheimer und sein Freund Theodor Wiesengrund-Adorno den Fasching 1932, den letzten vor dem Exil, als Faschisting - in SA-Uniformen. 110
Zu der Handvoll Hellsichtiger, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Koffer packten, weil sie trotz gelegentlicher Erfolge der demokratischen Kräfte den Aufstieg der NSDAP für unabwendbar hielten, gehörten die Schriftstellerin Vicki Baum, der Regisseur Eric Charell und die Schauspielerin Elisabeth Bergner.
»Die Bergner ist auf eine für uns alle sehr rätselhafte Weise plötzlich nach England gegangen«, erinnert sich Max Reinhardts Sohn Gottfried. »Ich selbst wäre damals nie auf so eine Idee verfallen, und ich kenne kaum einen, der geahnt hätte, was auf uns zukam, geschweige denn irgendwelche Konsequenzen gezogen hat.« 111
Niemand akzeptierte daher auch Charells Gründe, als er den Vertrag für Max Reinhardts Großes Schauspielhaus kündigen wollte. Der Geldsegen, der die Operetten und Revuen mit schöner Regelmäßigkeit belohnte, besaß für die aufwendigen Projekte des deutschen Theaterkönigs, der keinerlei staatliche Unterstützung bezog, die Bedeutung einer Subvention. Reinhardt bestellte Charell zu sich auf Schloß Leopoldskron und bekniete ihn weiterzumachen.
»Wissen Sie, Herr Professor«, lautete Charells Antwort, »nicht nur dass ich gehe, auch Sie sollten Deutschland verlassen. Und zwar rasch.« 112
Max Reinhardt verstand nicht, wovon Charell sprach.
Auf nicht weniger Befremden stieß Vicki Baum mit ihrem Entschluss auszuwandern. Freunde und Bekannte erklärten die Bestseller-Autorin für hysterisch. »Im Ullsteinhaus fragte man mich, ob ich den Verstand verloren habe«, schreibt sie in ihren Memoiren. Doch sehr wohl wusste sie, was sie tat: »Ich sah die Gesichter der Demonstranten auf der Straße; die eingefallenen, schmallippigen Gesichter, die schlottrigen, abgetragenen Trenchcoats der verbitterten ehemaligen Frontsoldaten und Arbeitslosen; ich sah überall Haß und Fanatismus ...« 113
Auch Paul Falkenberg ließ sich von Einwänden seiner Freunde nicht beirren. Seit seiner Mitarbeit an Fritz Langs »M« und an Carl Theodor Dreyers »Vampyr«, zwei zukünftigen Klassikern der Filmkunst, war der junge Cutter ein äußerst gefragter Mann, und so bot sich ihm bereits Anfang 1932 eine Gelegenheit, in Paris zu arbeiten. Seine Frau Alice schloss ihr Fotostudio, das sie erst 1928 eröffnet hatte, und folgte ihrem Mann ins Ausland. Die Berliner Wohnung behielt das Paar bei - bis Hitlers Machtübernahme alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zunichte machte.
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