Aber man muss auch anmerken, dass der Blues dem Spiritual, den Liedern in der Kirche, so manches verdankt. Muddy wusste das. Später sagte er: „Vom Singen in der Kirche bekommt die Stimme einen tollen Klang.“
Fast alle Großen des Blues begannen ihre musikalischen Ausbildung auf die abenteuerlichste Weise. Es war nie ein systematisches Lernen, es war eine Aneignung, bestimmt von der Freude an dieser Musik und begabt mit einem ausgeprägten musikalisch-rhythmischen Gehör, ein Lernen im Freistil.
Von Big Bill Broonzy, einem anderen Großen des Blues, weiß man, dass er sich seine erste Gitarre aus Brettchen von Zigarrenkisten baute.
Bei Muddy war es zuerst der Kamm, dann erst die Mundharmonika, dann eine lädierte Harmonika, dann als Schlagzeug ein Benzinkanister.
In einer Hütte, die keinen Keller hatte, konnte man den Krachmacher, wie hier häufig üblich, nicht in die Unterwelt verbannen, also schickte ihn die Großmutter nach draußen. Dort klimperte er auf einer selbstgebauten Gitarre. Irgendjemand, der das Instrument beherrschte, kam vorbei, sah wie der Junge sich abmühte, und zeigte ihm ein paar Akkorde. Zu welchem Lied sie passten, fand er dann selbst heraus, schließlich fiel auch ab und zu mal ein Centstück vor ihm in den Staub. Wenn genug Nickel zusammengekommen waren, kaufte er sich eine Schallplatte: Barbecue Bob, Blind Lemon Jefferson, Roosevelt Sykes, der den Blues auf dem Klavier spielte.
Ja doch, das war seine Musik. Er hätte nicht zu sagen gewusst, warum ihn diese Musik mehr anzog als jene, die die Großmutter mochte.
Wir können diesen weißen Fleck leicht füllen. Diese Melodien und Lieder drückten sein Leben, seinen Kummer, seine Sehnsüchte aus. Wie Gottfried Benn sagte:
„… es gibt Melodien und Lieder,
die bestimmte Rhythmen betreun.
Die schlagen dein Inneres nieder,
und du bleibst am Boden bis neun.“
In diesem Alter, er mag zwölf oder dreizehn gewesen sein, entwickelt Muddy drei Berufswünsche: Ein guter Prediger, ein Star unter den Baseballspielern oder ein guter Bluesmusiker will er werden. Mit der Zeit wurden die beiden ersten Berufe gestrichen, was blieb, war der Blues. Er hollerte längst, das heißt: Er sang im Bluesstil, wohl zuerst ohne zu wissen, dass dies Blues war. Er erzählte: „Jeder hollerte, aber man achtete gar nicht darauf ... Man könnte es Blues nennen, aber es waren einfach spontane Einfälle. Wenn ein Kerl, eher noch ein Mädchen in der Nähe arbeitet und du willst etwas mitteilen, dann hollerst du, singst es. Oder vielleicht für dein Maultier und sonst was. Oder es wird spät, und du willst nach Hause gehen. Ich sang immer so, wie ich mich fühlte.“ 5
Was nun folgt – die Entwicklung eines Sängers vom Amateur zum Halbprofessionellen – kann man sich gut vorstellen: Erst spielte er auf den Fish-Fry-Parties am Samstag, dann in Bierhallen und Bierkneipen in Clarksdale, dann in Cotton Houses, überdachten Wagen, die irgendwo in der Landschaft standen. Der Musiker, der Gitarre spielte, war vor allem dazu da, um die Frauen anzulocken.
Der Mann, der die Party gab, verdiente an den Glückspielen und an schwarz gebranntem Whiskey. In so einem Schuppen war es laut und als Musiker musste man eine Musik machen, die schrill war, um auf sich aufmerksam zu machen. In so einem Cotton House hörte Muddy Son House, der ein hartes Bottleneck-Spiel auf einer Gitarre mit Stahlsaiten ausführte. Stundenlang stand er in der Ecke bei dem Gitarristen und beobachtete seine Fingersätze.
Muddy war vierzehn, als er sich seine ersten Gitarre kaufte. Er zahlte für die gebrauchte „Stella“ zwei Dollar fünfzig. Aber soviel verdiente er dann in einer Nacht, wenn er auftrat. Bald hatte er sich vierzehn Dollar zusammengespart und konnte sich aus dem Sears-Roebuck-Katalog ein gutes Instrument bestellen.
Der Radius seiner Auftritte wurde weiter gezogen. Mit der Eisenbahn fuhr er als Hobo, also als Schwarzfahrer, auf den Dächern der Güterzüge. Wenn die Eisenbahnsheriffs einen erwischten, landete man in einer Strafkolonie.
Im November 1932, Muddy war jetzt neunzehn, heiratete er die Schwester eines Musikerkollegen, Mabel Barry. Auf der Hochzeitsparty ging es so wüst zu, dass der Fußboden durchbrach. Die Ehe wurde nicht glücklich, was wohl auch dazu beitrug, dass Muddy nun ständig in der näheren Umgebung unterwegs war. Im Mai 1935 wurde er zum ersten Mal Vater, nicht von seiner Ehefrau, sondern die Mutter des Kindes war ein hübsches Mädchen, selbst verheiratet, und führte einen ziemlich lockeren Lebenswandel. Derlei Unordnung in den Beziehungen war unter den Blues-Musikern eher die Regel denn die Ausnahme.
Muddy spielte und spielte. Er wurde immer besser in diesem ländlichen Bereich des Südens, durch den er sich gleich einem rollenden Stein, der kein Moos ansetzt, bewegte. Er trat in einer sogenannten Wandershow auf, bei der man ein festes Gehalt bekam. Der Kontakt mit anderen Musikern brachte ihn musikalisch voran, aber Beachtung bei einem nationalen Publikum konnte man nur erringen, wenn man Schallplattenaufnahmen machte. Dazu musste man nach Chicago. Also machte sich Muddy 1940 dorthin auf den Weg. Obwohl Chicago damals die Stadt mit den besten Blues-Musikern war, konnte er dort nicht Fuß fassen.
Er spielte einen „alten Blues“, den in der Stadt niemand hören wollte. Als er kein Engagement mehr bekam, kroch er ziemlich resigniert nach Clarksdale zurück. Und dann geschah das Wunder.
Muddy spielte an Wochenende wieder in seiner alten Heimat. Er handelte mit schwarz gebranntem Whiskey, wartete auf den Beginn der Baumwollernte, vergnügte sich mit den cotton women, Mädchen und Frauen, die man schnell herumkriegte und die bereit waren, zwischen den Baumwollpflanzen mit einem zu schlafen …
Das Wunder geschah im August 1941.
Alan Lomax und sein Begleiter, der Schwarze John Work III. waren zwei Sammler, Feldforscher, die für ein Projekt der Library of Congress in Washington und der Fisk Universität unterwegs waren, Ziel war es, „objektiv und erschöpfend die musikalischen Gewohnheiten einer einzelnen Negergemeinde im Delta zu erforschen.“ 6
Dabei ereigneten sich Dinge, bei denen Muddy langsam begriff, wie gut der Blues geworden war, den er sang und spielte.
Das Unternehmen der Sammler erwies sich als ziemlich schwierig, denn man hielt sie zuerst für Gewerkschaftsfunktionäre, die Mitglieder werben wollten.
Mit Spirituals in Kirchen ging es leichter und bei diesen Aufnahmen fiel der Hinweis auf „Stovalls berühmten Gitarrenspieler“.
Sie fuhren also auf die betreffende Plantage und baten den Aufseher, mit dem Sänger in Kontakt treten zu dürfen. Das wurde ihnen gestattet, aber nun war es Muddy, der sich zunächst ablehnend verhielt, weil er fürchtete, die beiden Männer seien von der Steuerfahndung und wollten ihn wegen seiner Geschäfte mit schwarz gebranntem Whiskey belangen.
Als aber die beiden Fremden eine Gitarre aus ihrem Auto holten, als sie mit Muddy aus demselben Becher Wasser tranken, ihm später Whiskey anboten, war der Bann gebrochen.
Unter anderem sang ihnen Muddy seinen „Country Blues“ vor:
It gets late on the evening
I feel like blowing my horn.
I woke up this morning
And find my little baby gone …
Some folks say the worried blues ain’t bad.
That’s the miserablest feeling child I most ever had …
Minutes seem like hours
And hours seem like days
Seem like my baby
Would stop her low-down ways …
I been mistreated
And I don’t mind dying.
Lomax und Work nahmen mit ihren Aufnahmegeräten zwei Platten auf, dazu Äußerungen von Muddy Waters, in denen er über seine Vorstellungen vom Blues sprach. Sie versprachen, er würde Plattenkopien von den Aufnahmen und ein Honorar erhalten. Aber die Einhaltung dieser Zusagen erwies sich als schwierig.
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