Es entstanden die großen Baumwollplantagen der Weißen, die von schwarzen Sklaven bearbeitet wurden.
Das Ende des Bürgerkriegs brachte den Sklaven nur scheinbar die
Freiheit. Tatsächlich besiegelte das nun aufkommende Sharecropping-System nur die Trennung von Weißen als reiche Oberschicht und Schwarzen als arme, sich schindende Landarbeiter.
Denn Sharecropping bedeutet: Ernteteilung.
Man gab den Schwarzen Land in Pacht und entließ sie aus der Sklaverei, von den Erträgen des Landes gehörte die Hälfte dem weißen Boss.
Die Abhängigkeit von ihm war insofern noch weit stärker, als die schwarzen Pächter alles Arbeitsgerät und alle Lebensmittel in einem Gemischtwarenladen einkaufen mussten, der dem weißen Herrn gehörte.
Von dem Wert der Erntehälfte, die dem schwarzen Pächter gehörte, wurden seine Schulden im Laden abgezogen.
Auf vielen Plantagen gab es eigenes Geld. Wer als Sharecropper zu große Schulden hatte, floh manchmal mit Sack und Pack, wurde er gefasst, drohten ihm Prügel, manchmal auch Lynchjustiz.
Das Wasser des Flusses bedeutet Fruchtbarkeit, Leben, denn die Fluten trugen fruchtbare Humuserde mit, es bedeutete aber auch Gefahr und Tod, wenn man von einem plötzlichen Ansteigen des Flusses überrascht wurde, oder im tückischen Sumpfboden versank.
Die Großmutter nannte den Enkel „Muddy“ („Schlammig“), als könne sie ihn mit diesem Namen vor einem nach Menschenopfern gierenden Fluss schützen.
Irgendwann zog die Großmutter mit Sohn und Enkel um in die in Coahoma County gelegene Stovall-Plantage, sechs Meilen westlich von Clarksdale, Mississippi, der Grund scheint gewesen zu sein, dass es auf dem eintausendsechshundert Hektar großen Stovall-Gut unter den Sharecroppern Verwandte gab.
Auch Ollie Morganfield, Muddys leiblicher Vater, lebte dort, er hatte inzwischen mit seiner Ehefrau zahlreiche Kinder und ging seinem leiblichen Sohn aus dem Weg.
Der Arbeitstag der schwarzen Pächter auf den Baumwollplantagen war lang und hart.
„Man läutete die Glocke um vier Uhr morgens, um alle Arbeitskräfte zu wecken. Das Arbeitsleben begann schon im Alter von fünf, sechs Jahren. Kinder, die noch zu klein waren, um einen Baumwollsack zu halten, wurden mit einem Karren, einem Fässchen Wasser und einem Schöpflöffel auf die Felder geschickt. „Wasserjunge!“ war der Ruf, auf den sie hörten, und sie stillten den Durst der Baumwollpflücker“ 3
Mit acht begann Muddy Baumwolle zu pflücken. Er tat das nicht gern. Auf der Plantage kannte man Hunger. Aber von der Stadt hieß es, man müsse dort verhungern.
Die weißen Kinder gingen neun Monate zur Schule, die schwarzen erst dann, wenn alle Baumwolle gepflückt war. Das war um die Weihnachtszeit. Muddy hörte im dritten Schuljahr damit auf, den Unterricht zu besuchen. Zeit seines Lebens verstand er die Bedeutung der Worte nicht, die er in einem Buch oder Papier entziffern und laut aussprechen konnte.
Von nun an erwartet man auf der Plantage von ihm, dass er die gleiche Arbeit wie ausgewachsene Männer tat – den Pflug führen, Baumwollpflanzen hacken, Baumwolle ernten.
Musik hörte man viel auf der Plantage.
Kurz vor Muddys Geburt hatte der Blues sich aus der Überblendung von schottischen Balladen, irischen Jigs, schwarzen Shouts und Arbeitsliedern zu einer klar erkennbaren, eigenständigen Form entwickelt.
1903 schrieb ein gewisser Charles Peabody, eigentlich ein Archäologe, der in der Nähe von Stovall einen indianischen Erdhügel ausgrub:
„Die Liedchen hatten entweder einen allgemeinen Bezug auf Bräuche und Ereignisse im Leben der Neger oder waren besonders treffende Augenblicksimprovisationen über ein Thema, das gerade von Interesse war.“ 4
Im selben Jahre hörte W. C. Handy, der die ersten Blueskompositionen drucken ließ, auf einem Bahnhof im Mississippidelta einen Gitarristen, der mit dem Messer über die Saiten seiner Gitarre fuhr.
Der Bottleneck-Stil war erfunden, und damit wurde die Gitarre unter Einsatz eines Flaschenhalses oder der Faust von einem Rhythmus- zu einem Melodieinstrument der Klage.
Genauer betrachtet hat man sich die Entwicklung des Blues etwa so vorzustellen:
Es begann alles mit dem field holler, dem Schrei des Schwarzen, des Sklaven in einer einsamen Landschaft, eines Mannes, der Bäume fällte oder eine verloren gegangene Kuh suchte.
Ein einsames menschliches Wesen, erschrocken über die ihn umgebende Stille, stieß wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet, seine Furcht aus sich heraus.
Aus dem hollering oder Rufen wurde allmählich ein primitives Lied, das schließlich zum die Arbeit begleitenden Gesang wurde, in dem der Schrei noch klar erkennbar war.
Wann ist der field holler oder holler song ursprünglich entstanden?
Das kann niemand sagen, wahrscheinlich aber ist, dass dies mit der Abschaffung der Sklaverei oder vielleicht sogar noch vor 1860 geschah.
In den vierzig Jahren danach bis zur Jahrhundertwende entwickelte sich der holler song zu einem Lied über das Leben im Allgemeinen. Er wurde reine Volksmusik, gesungen in den Arbeitslagern, unter den in Ketten gehenden Sträflingen, auf den Booten, bei der Arbeit auf den Feldern des Südens.
Die es erfanden und sangen waren alles Menschen, deren Schicksal sich von dem der Sklaven nicht allzu sehr unterschied, Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Schweiß ihres Angesichts verdienten.
Ihr Leben war unsicher, voller Furcht, und Zweifel. Also war es nur natürlich, dass ihre Probleme sich in den Lieder spiegelten: Lieder, die von katastrophalen Naturereignissen, zerrissenen Kleidern, harter Arbeit, Heimweh und ungetreuen Liebhabern erzählten.
In diesen Zeitabschnitt nahmen diese Lieder eine gewisse standardisierte Form an: Die erste Textzeile wurde wiederholt, gefolgt von einer dritten, anders lautenden Zeile. Das hörte sich etwa so an:
„My baby is a Texas Tornado and she howls like the wind.
My baby is a Texas Tornado and she howls like the wind.
She’ll blow the house down, if you should ask her where she been.“
Der Basis von zwölf 4/4-Takten folgt ein feststehendes Akkordmuster.
Diese Form entwickelte sich bei den Bluessängern, die aber Neuheiten hinzufügten und extemporierten. Diese Musiker waren zunächst keine professionellen Sänger, sondern verdienten ihr Geld durch körperliche Arbeit, wenngleich ihre Erfahrung und ihr Talent über das Niveau von bloßen Amateuren hinausgingen.
Ihre Lieder wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als Blues bekannt.
Die Bezeichnung wurde abgeleitet von „blue“, d. h. sich in depressiver Stimmung befinden, wenngleich der Blues von vornherein auch humoristische und satirische Elemente aufwies.
Auch über seinen Kummer kann man lachen oder Witze machen.
Was Muddy zuerst gehört haben mag, denn die Großmutter, bei der er aufwuchs, nahm ihn jeden Sonntag zum Gottesdienst, waren Gospelsongs, Spirituals. Da war von der Erlösung nach dem Tod die Rede, im Himmel oben, nach diesem irdischen Dasein voller Schinderei. Die Spirituals singt ein Chor, also die Gemeinschaft.
Anders der Blues, der damals gerade seine Geburtswehen hinter sich hatte. Der Blues ist letztlich der Ausdruck der Gefühle eines Einzelnen. Die Großmutter mochte den Blues nicht. Im Blues war vom Hier und Jetzt die Rede, von dem, was einen ganz persönlich bedrückte, von den Enttäuschungen, die man erlebte, von den Wünschen, die in einem entstanden.
(Den, der hier schreibt, erinnert diese Konstellation an die eigene musikalische Sozialisation nach 1945. Die Eltern waren gegen den Jazz, nannten ihn Dschungelmusik, die Partei, die SED, verbot ihn nicht gerade, aber da er aus den USA herüberschwappte, war die Musik verpönt. Und gerade deshalb war der Zwölf-/Dreizehnjährige darauf aus, irgendwo Jazz zu hören, spät in der Nacht im Radio auf dem Sender RIAS.)
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