„Määänsch, lange nich geseh’n“, meint er, hält mich etwas auf Abstand und schaut mich reichlich kritisch an.
„Siehs’ abba nich besonders aus“, meint er dann und schüttelt den Kopf. Ich weiß ja, dass er recht hat. Aber er sieht ja nun auch nicht gerade …
„Na, komm her, altes Sackgesicht, lass dich anpacken!“, sagt er überaus wohlmeinend und dann versucht er, mich zu umarmen, obwohl der dicke Bauch mitten im Weg ist. Meine Beule, die ich schon fast wieder vergessen habe, findet irgendwie mit viel Schwung den direkten Kontakt zu seinem kantigen Schädel und es tut furchtbar weh. Doch dann klopfen wir uns auf die Rücken, dass es staubt und lachen herzlich.
„Mensch, Günni, ich … äh … du … äh …“
Was soll man da sagen, wenn einer so ohne jeden Plan aus-einandergegangen ist?
„Ich weiß“, sagt er dann selbst, „hab’ mich so ungefähr verdoppelt. Hach, dat ewige Bier, weiße.“
Doch dann baut er sich vor mir auf, breitet erwartungsvoll grinsend die Arme aus und fragt dann: „Un … wie gefällt et dir?“
Naja, geht so.
„Hömma, Heino, tut mir leid“, sagt er dann hastig, „ich hab überhaup’ keine Zeit im Moment. Dat erste Fass is’ leer. Die saufen wie die Stiere da drin. Geh schomma rein, wir sehen uns.“ Und dann verschwindet er schnaufend und stampfend im Keller der Kneipe und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er die Kellertreppe auch in der umgekehrten Richtung mit einem vollen Fass Bier bewältigen kann.
Der dicke Günni! Er war immer ein langer, drahtiger Kerl, der mit seinem Dackelblick alle Mädchen verrückt gemacht hat. Ich glaube, damit ist es jetzt erst mal vorbei.
Der Saal tobt. Ich betrete also mit eindeutigen Hinrichter-Absichten und einem dementsprechenden Blutdruck von etwa dreihundertfünfzig zu zweihundertachtzig den hinteren Raum der Gaststätte.
„Heinz-Nobätt!“, geht es da aber schon los, als man mich entdeckt, und der erste Unbekannte klopft mir gewaltig auf die Schulter. Aua. „Kennze mich nich mehr?“
Nee, irgendwie nicht. Ich kenne hier keinen Menschen.
„Helmut!“, dröhnt es mir entgegen.
„Ach ja, Onkel Helmut“, sage ich mit angemessener Zurückhaltung und weiche seinem Bieratem geschickt aus.
„Och, lass den Onkel ma wech. Nur Helmut!“ Und schon wieder gibt es einen derben Schlag auf die Schulter, dass mir der Schmerz voll hoch in die Beule fährt. Ehe ich mich wehren kann, habe ich einen Schnaps in der linken Hand und rechts ein Bier.
„Hau wech, die Scheiße!“, fordert Helmut mich auf und fügt dann aber ehrenhafterweise noch mit ernster Miene und Grabesstimme hinzu: „Auf unsere Hilde!“
Als er spürt, dass ich zögere und vielleicht sogar mit dem Gedanken spiele, abzulehnen, sagt er, ohne irgendein Verständnis für mein Verhalten zu entwickeln: „Na los, wat is’ denn? Willze nich auf deine Mutter trinken?“
So, jetzt reicht’s mir aber! Und ich werde laut. Muss jetzt sein!
„Ruhe hier, Rotzverdammi noch mal!“, brülle ich durch den Saal und Onkel Helmut weicht erschrocken einen Schritt zurück. „Seid ihr denn alle noch ganz klar? Das ist hier ’ne Beerdigung und keins von euren üblichen Besäufnissen! Setzt euch mal schnell alle wieder hin, bedient euch bei den Bütterkes, nehmt euch was vom Blechkuchen, trinkt Kaffee und trauert gefälligst um eure Hilde Flottmann, verdammte Scheiße!“
Na gut, das Ende ist mir ein wenig entglitten, aber es stimmt doch! So eine Mordsstimmung auf der Beerdigung meiner Mutter. Das gibt’s doch gar nicht!
Es ist tatsächlich augenblicklich Ruhe im Saal und ich kann also beruhigt wieder vom Stuhl heruntersteigen, den ich mir ganz spontan für meine kleine Ansprache ausgesucht hatte. Im Hintergrund fällt mir ein breitschultriger Mann mit Pferdeschwanz und Sonnenbrille auf, den ich auch schon mal irgendwo gesehen habe. Sonnenbrille drinnen!
„So“, sage ich trotzig zu Onkel Dieter, „geht doch nicht, Mensch!“
Zum Feiern ’ne Gelegenheit,
die find'st du überall.
Musst nich’ drum verlegen sein
im Sauerland – normal.
Eine leicht peinliche Stille beherrscht von nun an den Raum, die Temperatur ist ein wenig gesunken und ich habe das Gefühl, die Trauergäste kommen jetzt auch ganz gut ohne mich klar. Ich muss jedenfalls wieder raus hier. Tut mir leid für Günni, der mir im Vorraum heftig schwitzend fast ein Bierfass in die Kniekehlen rollt. Dem habe ich jetzt wohl den Umsatz versaut. Naja, stirbt ja sicher bald der nächste.
Und dann geht mein Handy. Ach du meine Güte, ich habe Sylvia völlig vergessen. Hätte ja mal anrufen müssen. Im Hintergrund erhebt sich schon wieder ein mächtiges Gemurmel, aus dem sicherlich bald wieder der Soundtrack eines gemütlichen Beisammenseins und dann vielleicht sogar wieder der einer Wahnsinnsfeier wird. Ich habe das so im Gefühl.
„Jaaa?“ rufe ich, immer noch etwas wütend, in das Gerät.
„Wie, ,JAAA‘?“, keift es da aus dem kleinen, handlichen, elektronischen Dingsda zurück. „Hardy, bist du das?“
„JA. Und du auch? Ich meine, bist du das auch da? Äh … Sylvia?“
„Hardy, was ist denn los mit dir? Was macht ihr da? Bist du nicht auf der Beerdigung? Sprich mit mir!“
„Mmh, jo, alles klar so weit … wir sind jetzt hier am Kaffeetrinken. Wie zur Bestätigung geht gerade ein spitzer Lacher steil in die Luft und die Meute lässt sich zu einem noch leicht verhaltenen Gröler hinreißen.
„Kaffeetrinken?“
„Ja, das macht man so nach einer Beerdigung, alter Brauch, weiße? Sylvia?“
Dann kommt Bernd wieder an mir vorbei.
„Sylvia, ich ruf’ dich gleich noch mal an … ich muss nur mal kurz eben …“
Tüt-tüt. Schon aufgelegt. Mist. Tja, wat willze machen?
„Bernd, hör mal!“, winke ich meinen Bruder ran.
„Ja“, sagt Bernd, „hass ja recht. So geht dat nich’. Aber so sin' die immer. Beerdigung’n, Hochzeit’n, Geburtstage … is’ alles eins. Da kannze nix machen!“
Ja. Ja?
Genutzt hat meine kleine Rede scheinbar allerdings nicht viel, denn es geht schon wieder lustig rund bei der feiergeilen Trauergemeinde. Doch erst mal zu den anderen wichtigen Sachen.
„Hör mal, Bernie, ich muss unbedingt mein Auto aus dem Graben ziehen. Ich muss heute noch nach Düsseldorf zurück!“
Bernie runzelt seine Stirn, auf der einige glänzende Schweißperlen stehen.
„Was is’ denn getz mit dei’m Auto?“
„Na, ich hatte da doch so ’n scheiß Unfall, Bernie. Die Karre is’ im Graben und muss da jetzt raus. Unbedingt.“
„Tja, ich will ma kucken, wat sich machen lässt.“ Und dann ist er schon wieder weg.
Ja.
Da klingelt das Handy wieder. Ich räuspere mich kurz und bereite mich auf ein paar ernstzunehmende Worte zu meiner Verteidigung vor.
„Sylvie, pass auf, es is’ nur, weil …“
„Ich bin’s. Arno.“
Oh, der Herr Schwiegerpapa. Vielleicht. Doppelte Vorsicht ist also geboten.
„Hallo, Arno, was gibt’s?“ Die Stimmung erfährt gerade wieder einen neuen kleinen Höhepunkt. Sind die schon bei der Polonaise?
„Was ist denn da los bei euch? Ich denke, das ist ’ne Beerdigung?“, sagt er. Und ich sehe förmlich, wie er hinter seinem mächtigen gläsernen Schreibtisch steht und seinen grauen Kopf voller Haare schüttelt. Arno ist so der Typ Dressman für die etwas ältere Generation, sieht nicht so schlecht aus für sein Alter, hat aber leider ein etwas zu kantiges, vorspringendes Kinn, was für mich immer seine Sturkopfigkeit symbolisiert.
„Ja, so sind die Beerdigungen eben hier. Sehr … herzlich. Meine Mutter war eben sehr beliebt, weißt du?“
„Tja, nun … du hast sicher von Sven gehört, was hier los ist. Also, bitte, sieh zu, dass du dich so schnell wie möglich da von dieser … Feierlichkeit loseisen kannst und dann mach mir noch schneller eine neue Kampagne für Atzenberger. Der geht zur Konkurrenz. Und du weißt, was das heißt. Wir, du, ich, die Agentur, wir sind alle geliefert. Wir brauchen diesen dämlichen Atzenberger und seine Millionen.“ Dann macht er eine kleine Pause, die durch einen heftigen Lacher aus der Kneipe gefüllt wird. „Hörst du mich, Hardy?“
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