Wäre das Kontinuum ein Gas, so stünden die Fundamentalkonstanten c, G und ħ für Temperatur, reziproke Dichte und freie Weglänge. Noch einmal: Die Konstituenten haben nicht schon Masse, nur Volumen, Abstand voneinander und Bewegung. Masse wird erst durch deren Dynamik konstituiert.
Was heißt dann »Sein«?
Wenn alle Erscheinungen auf Körper zurückzuführen sind, ist deren »Sein« durch das Sein bestimmt, das der Anschauung a priori »Körper« zugeordnet ist. Mit Permanenz und Undurchdringbarkeit ist schon alles gesagt, und »Sein« stellt sich als durch die Anschauungen a priori vorweggenommen heraus.
Was ist Sein von Geist? »Materiell« ist Geist Information, und deren Essenz liegt gerade nicht im Körperlichen, sondern in Strukturen. Wird eingesehen, dass mit Undurchdringbarkeit von Körpern nicht ein beliebiger Tatbestand gemeint ist, sondern eigentlich eine Wechselwirkung, nämlich insofern, als Körper andern Körpern den Weg versperren, diese herumschubsen oder von diesen herumgeschubst werden – wie Kleinkinder Körper erfahren –, so wird im Analogieschluss klar, dass auch »Sein« von Information deren Wirkung meint. Information ist die Struktur, die sich mitteilt.
Die Physik spricht von elektrischer Ladung, kann aber nicht angeben, was Ladung konstituiert, sondern misst Wechselwirkungen, denen sie als Ursache Ladung unterstellt. Ladungen sind Eigenschaften von Elementarteilchen und haben keinerlei isolierbare Existenz; Säure ist ihre saure Wirkung; durch die Mauer, die die Fledermaus wahrnimmt, kann sie nicht durch; »Haus« ist seine bergende Funktion. Das Dasein eines Menschen ist sein Wirken und Dulden – nicht seine Biomasse.
All dies abstrahiert: »Sein« heißt »in Wechselwirkung stehen«. »Sein« erwächst dem Sprachgebrauch: Man sagt von einem Gegenstand, den man objektiviert, also vom Bezug auf sich selbst löst, er »sei«. Der Gegenstand ist Teil des Inventars der Welt des Sprechers. Er müsste eigentlich sagen, er hätte sich den Gegenstand gemerkt. Sein kann denn auch in jedem Satz ersetzt werden: Beeren sind/leuchten rot; Schüler sind/halten sich im Schulhaus auf; zwei und zwei sind/ergeben vier. Dass etwas sei, als Projektion des Sprechenden, ist, wie alles Sprachliche, allein durch Zweckmäßigkeit begründet.
Erkenntnisgrenzen
Wer sich der Wirklichkeit stellen will, muss auch sein Erkenntnisvermögen als Teil objektivierbarer Wirklichkeit betrachten, was mit der Einsicht anfängt, dass Kontinuum, Raum und Zeit nicht Teil des Bildinhaltes sind, nicht die Wirklichkeit sind, sondern Material und Rahmen für deren Vorstellung – Sand und Sandkasten, womit ein Modell der Welt gebaut werden kann.
Die Anschauungen a priori sind hinzunehmen und weiter nicht zu deuten. Warum dann dieses Aufheben darüber? Weil der Rahmen für jegliches Philosophieren, den sie abstecken, nicht zu überschreiten ist, auch wenn einer über »außerhalb« nachzudenken meint. Die Philosophie war sich offenbar der Anschauungen a priori zu wenig sicher, um Einstein zurück zum Reißbrett zu bitten, als er mit Krümmung und Dehnung von Raum und Dehnung von Zeit kam. »Die Natur hat uns das Schachbrett gegeben, aus dem wir nicht hinauswirken können …«Goethe
Kopernikanische Wenden
Nikolaus Kopernikus,
1473–1543
Fragt man einen Dreijährigen, der einen Bruder hat, ob dieser auch einen Bruder habe, so antwortet er mit Nein, sie seien nur zu zweit. Erst ein Jahr später kann er die Beziehung von ihm zum Bruder von außen betrachten und damit objektivieren. Auf sich bezogen deuten Kleinkinder auch die Welt, wenn sie meinen, der Mond scheine, damit sie den Weg nach Hause finden. Die kognitive Entwicklung der Menschheit wie der Individuen ist gekennzeichnet durch zunehmende Lösung der Ansichten von eigenem Betroffensein.
Animismus in Jäger und SammlerKulturen projiziert Intentionen in alles Weltgeschehen: Wolken als Ausdruck der Stimmung von Göttern und diese als deren Reaktion auf menschliches Verhalten. Die erste Wende in der Geistesgeschichte leiteten die Vorsokratiker (600–400 v. Chr.) ein: Sie betrachteten das Weltgeschehen losgelöst von göttlichen Intentionen und begründeten die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit; räumlich wie ideell allerdings noch mit dem Menschen im Zentrum. Diese Weltsicht, der Ptolemäus (100–170) den letzten Schliff gab, hielt sich, gestützt durch die Scholastik, gegen 2000 Jahre.
Giordano Bruno,
1548–1600
Kopernikus initiierte die zweite Wende: Das Universum drehe sich nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne, was er damit begründete, dass die Bewegungen der Himmelskörper so einfacher ausfielen: »Alles, was an Bewegung am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen …« Damit rückten Erde und Mensch aus dem Mittelpunkt aller Ursachen und Zwecke – ein ungeheurer Angriff gegen Offenbarung, kirchliche Autorität, Selbst und Weltverständnis der Epoche. Kopernikus nahm man kaum ernst, Luther hielt ihn gar für einen Narren, Giordano Bruno hingegen wurde sechzig Jahre nach Kopernikus’ Publikation für die gleichen Aussagen verbrannt.
Einsteins Relativitätstheorie (RT) läutete 1905 eine dritte Wende ein, verletzt aber die Anschauungen a priori. Sie bildet nicht ab, dass Physik in den Grenzen menschlichen Kognitionsvermögens gedacht wird; auch nicht, dass sie eine Sammlung abstrakter Begriffe und Sätze ist, die über das Gemeinsame von Erscheinungen gelegt werden.
Immer waren es Widersprüche, die zu neuer Erkenntnis, insbesondere zu einem höherem Grad von Objektivierung führten,
–bei Kopernikus: »Warum bewegen sich Planeten nicht wie die andern Himmelskörper?«;
–bei Einstein: »Warum kommt Licht mit c an, wenn es mit c + v ausgesandt wurde?« ( c Lichtgeschwindigkeit, v Annäherungsgeschwindigkeit der emittierenden Lichtquelle);
–in der deduktiven Physik: »Wenn die Anschauungen a priori unverrückbarer Teil des Denkvorganges sind – wie können die Ergebnisse der Relativitätstheorie damit in Einklang gebracht werden?«
2
Materie aus dem Nichts:
Dynamik des denknotwendigen Kontinuums
Das menschliche Gehirn stellt für die Vorstellung der Welt die Anschauungen a priori als das Koordinatensystem (quasi als Kasten) und ein Kontinuum darin (quasi als den Sand in diesem Kasten) zur Verfügung. Die Aufgabe der Physik wäre es nun, die materielle Welt von den Elementarteilchen bis ins Universum in diesem »Sandkasten« darzustellen. Davon ist sie weit entfernt: Ihre geschlossenen Theorien umfassen 75 Gesetze und Konstanten und die offenen weit über hundert. Trotz dieser Fülle bleibt der Anfang aller Physik – Trägheit und Gravitation – ungeklärt; ihre vier Grossen Theorien hängen nicht zusammen, was daher rührt, dass sie von Erscheinungen ausgeht, im Experiment Korrelationen misst und daraus auf Gesetze schliesst: induktiv vorgeht. Treten durch die bisherigen Gesetze nicht erklärte Phänomene auf, behilft sie sich mit neuen Begriffen und vermehrt die Zahl der unabhängigen Gesetze und Konstanten.
Dieser Tendenz begegnet sie mit einem permanenten Bemühen um Vereinheitlichung (»Theory of Everything«, »Grand Unification« etc.) – seit den Vorsokratikern wird die Erklärung der Welt aus einem Guss erwartet.
Induktive Physik1 ist trotz aller Triumphe in eine Krise geraten, und bedeutende Denker werfen ihr gewisse Neigungen ins Esoterische vor, etwa das Higgs-Boson sei der Teppich, unter den alle Widersprüche gekehrt würden. Insbesondere ihre String-Theorie erfährt Skepsis und bisweilen Hohn: »Not even wrong.« Woit In Epilogen von Lehrbüchern wird denn auch regelmäßig gerätselt, ob die Elementarteilchen-Physik einen ganz »unerwarteten Ansatz« bräuchte, die Vermutung implizierend, dass »more of the same« kaum weiterführen wird. Statt wie Einstein 1921 verkündete, Physik müsse »Raum und Zeit vom Olymp des Apriorischen« herunterholen, scheint nun eher Philosophie die Aufgabe übernehmen zu müssen, Physik vom Olymp des Undenkbaren herunterzuholen.
Читать дальше