»Und was für ein Konzept«, flüsterte er und wiegte bewundernd den Kopf. In der dreieckigen, wimpelförmigen Scherbe rechts unten veränderte sich das Licht, im ganzen Bad veränderte sich das Licht, wurde dunkler, diffuser, blauer …
Viereinhalbtausend Menschen, ein überwiegend intellektuelles, interessiertes, engagiertes und sachverständiges Publikum, hatten gerade andächtig John Cages Song Books I-III, Version für Vokalensemble und elektronische Klangtransformation gelauscht und anschließend mit höflichem bis Bewunderung zollendem Beifall bedacht, nur stellenweise gestört von Gelächter, Pfiffen und Buhrufen. Dann war Joachim-Ernst Behrend ans Mikrophon getreten und hatte erst Cage gedankt und dann das Publikum um etwas Geduld für eine längere Umbaupause gebeten. Und ihm in seinen gewohnt wohlgesetzten Worten empfohlen, sich derweil schon einmal mental auf ein ganz besonderes musikalisches, optisches und emotionales Ereignis vorzubereiten und sie auf die »historischen Konnotationen« des Werkes hingewiesen. Beeindrucktes, erwartungsvolles Murmeln.
Acht Aufbauhelfer errichteten hinter dem Schlagzeugpodest eine Wand aus Blech, sechs Meter breitem und drei Meter hohem, fein geriffeltem, matt grau schimmerndem Weißblech. Bauten auf dem Podium ein Schlagzeug-Set auf, das bei manchen im Publikum beunruhigte Reaktionen auslöste – es war kein filigranes Jazzschlagzeug, sondern eher die Art Set, die man auf einem Konzert von John Hiseman oder Ginger Baker erwartete. Links davon wurde ein Arsenal an exotischen Perkussionsinstrumenten aufgebaut und mikrophoniert, von lateinamerikanischen Congas über indische Tablas bis zu chinesischen Tempelgongs, und rechts davon entstand ein Gestell, an dem siebenundsiebzig der unterschiedlichsten Flaschen aufgehängt wurden, von Acht-Zentiliter-Parfümflakons über normale Halbliter-Bier- und Ein-Liter-Milchflaschen bis zum Fünf-Liter-Weinballon. Jede von ihnen war mit Flüssigkeit gefüllt, manche nur ein, zwei Fingerbreit, andere halb voll, einige bis zum Hals. Vor dem Podest standen drei Orange -Verstärker, wie sie der eine oder andere jüngere Zuschauer vielleicht von Rockfestivals kannte, ein antikes Grammophon und ein fahrbarer Leierkasten, wie die Älteren sie sicher schon durch die Straßen ihrer Stadt hatten ziehen sehen und hören. Es gab keinen Affen auf dem Leierkasten – Heinz war zwar Tierfreund, aber abgelehnt hatten den Affen die Rundfunkredakteure, aus Angst vor Tierschützerprotesten.
Als Letztes wurde Heinz Gehrmanns Mikrophon verkabelt, zentral am Bühnenrand, und zu Füßen des Stativs eine Batterie von Effektpedalen, die das Mikro mit den Oranges verbanden. Dann wurde alles an Bühnenlicht gelöscht, und fast fünf Minuten lang geschah rein gar nichts.
Dann wurde langsam, quälend langsam, die vordere Bühnenhälfte in neblig-blaues Licht getaucht. Eine blonde Frau in einem antik-griechischen weißen Gewand betrat die Bühne, ging, feierlich schreitend, zu dem Grammophon und setzte die Nadel auf eine Schallplatte. Aus dem Lautsprecher erklang, dünn, kratzig und quäkend, Billie Holiday’s Version von Love me or leave me . Die Blonde schwebte zur anderen Bühnenseite ab. Heinz, in einem roten Smoking, trat auf, ging an sein Mikrophon und begleitete Billie, spielte ein paar sanfte, heisere Fills um ihre Zeilen herum – Lester Young nach ein paar Brandys –, flocht immer mehr verspielte Läufe ein, intensivierte sein Spiel, wurde lauter, sein Ton fordernder, und als die Platte zu Ende war und nur noch die seltsam rhythmische Schleife der Nadel in der Auslaufrille zu hören war, nahm er diese Schleife als Taktgeber, verdoppelte aber das Tempo seiner Tonkaskaden, vervierfachte es, spielte sich in einem wahren Parforceritt durch die Changes von Love me , in einem Höllentempo …
Charlie Parker ließ grüßen, aber auch John Coltrane und Anthony Braxton waren schon da, und alle drei waren auf Speed. Und Heinz hörte nicht auf, gönnte weder sich noch seinem Publikum auch nur die geringste Atempause – er hatte seine Zirkularatmungs-Lektion bereits gut gelernt; als bräuchte er nie mehr Luft zu holen, ließ er die wahnwitzigen Skalen auf die Zuhörer herunter prasseln – liebt mich oder geht weg –, und erst nach einer ganzen Weile bemerkte man, dass sich derweil der Schlagzeuger an seinen Platz geschlichen hatte und sich ebenso schleichend sein Ride-Becken zu Heinzens Läufen gesellte; wie von einer nimmermüden, treibenden Elvin Jones-Rechten gespielt, peitschte es Heinz in immer neue Höhen, unterstützt von gelegentlichen Snare-Rolls der linken Hand, akzentuiert von dumpfen Basstrommel-Schüben. Die beiden swingten wie Hölle, unten wurden erste Begeisterungsrufe und -pfiffe laut – bis immer öfter, immer brutaler, explodierende Snarewirbel den Rhythmus zerhackten; aus einer zwar schweinisch schnellen, aber immer noch traditionellen Jazznummer wurde Freejazz. Heinz überblies mehr und mehr Töne, das Saxophon fiepte und kreischte, bellte, jaulte und fauchte, ließ die Harmonien des Songs hinter sich, unter sich, stürzte nur gelegentlich wieder herab wie ein Bussard, um sich ein paar Fetzen davon aufzuklauben und mitzunehmen, um seine hungrig krächzenden Jungen zu füttern …
Dann machte sich Unruhe breit – eine Weile wusste niemand, was es war, dieses Grollen und Beben, die das Gelände erfüllten, es erzittern ließen, bis man schnallte, dass es der zweite Perkussionist war, der mit riesigen Schlegeln die Tempelgongs bearbeitete, das finstere Bollern an- und abschwellen ließ, minutenlang, so schien es, bis es nach und nach verklang und der Perkussionist die Schlegel beiseite legte und mit allerlei Glöckchen, Ketten und Rasseln einen neuen Klangteppich unter den wilden Ritt legte – lieb mich, wenn du mir folgen kannst, oder bleib, wo du bist .
Das Tempo, die Intensität des Swings schienen ihren Höhepunkt erreicht zu haben, längst erreicht zu haben eigentlich, aber das Trio ließ nicht nach, hielt die Spannung, peitschte sie weiter wie ein durchgeknalltes Kind seinen Dilldopp, um zu erleben, wie es schon nicht mehr sehen konnte, dass das Ding sich drehte, sondern wie eine Windhose auf dem Asphalt tanzte, wie kurz vorm Abheben – mehr, mehr, schrie der kleine Häwelmann … Und die ersten Zuhörer sprangen auf, junge Männer meist, in engen schwarzen Röhrenhosen und schwarzen Rollkragenpullis, und stießen schrille Schreie aus, schnippten heftig mit den Fingern, zuckten im wilden Rhythmus mit allen Gliedern, als habe Heinz den Schlosspark von Donaueschingen in einen Kral verwandelt, in dem mit archaischen Tänzen die bösen Geister vertrieben wurden; sogar die etwas gesetzteren, älteren, intellektuelleren unter den Zuhörern wippten mit den Knien, applaudierten, erst anerkennend, dann begeisterter … – da trat Heinz mit einem Fuß auf eins der Effektpedale. Seine immer noch rasant auf- und absteigenden Läufe wurden verstärkt und in krank umher taumelnden Echos auf ihn zurück, über all die verblüfften Köpfe geworfen; Heinz war nicht mehr einer, sondern ein halbes Dutzend ausgeflippter Heinze.
Und dann, niemand hatte auch nur das geringste dirigierende Zeichen gesehen, mitten in einer weiteren Gischt von Klängen, stoppten alle drei, abrupt und gleichzeitig, auf der Zwei eines Taktes.
Manche der Zuschauer, vor allem die Tänzer, sahen aus, als hätte ihnen jemand im vollen Lauf eine Zaunlatte in den Magen gehauen. Und während die Saxophon-Echos dumpfer und leiser wurden, langsam verklangen, während manche der Kinnladen noch nicht ganz unten waren, während die ersten einander überrascht und ratlos anschauten – was war das denn jetzt? –, wurden sie gewahr, dass jetzt auch der Leierkastenmann auf der Bühne war. Er drehte den Schwengel seines Instruments, gemächlich, als stünde sein Kasten auf dem sommerheißen Kopfsteinpflaster eines Berliner Hinterhofs – und spielte Ich weiß nicht, was soll es bedeuten … Die Loreley .
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