Wir sind glücklich, wenn die Dinge gut laufen. Doch wie oft entsprechen die Ereignisse unseren Erwartungen? Wenn wir auf unser ganzes Leben zurückblicken, erkennen wir leicht, dass die Zeiten, in denen wir wirklich glücklich waren, nur kurzfristige Höhepunkte darstellten. Diese kurzen Glücksgipfel sind eingebettet in die monotonen Tiefebenen des gewöhnlichen Lebens. Freilich hegen wir das zarte Gefühl, etwas erreicht zu haben, wenn wir ein Glücksempfinden erhaschen können, wie kurz es auch sein mag. Es wird zu einer Art Zusicherung, dass mit uns im Grunde alles in Ordnung ist und dass die Dinge sogar noch besser werden. Doch über dieses unsichere Gefühl von Zufriedenheit blicken wir fast nie hinaus, weil wir uns vor den unbekannten Kräften fürchten, die sich tiefer in unserem Geist zusammenbrauen, gleich hinter dem Licht. Wenn wir das täten, würden wir diese fragile Illusion ins Wanken bringen, die wir so angestrengt aufrechterhalten. Glücklicherweise brauchen wir nicht immer in diesen trüben Gewässern zu schwimmen.
In seiner Unbeständigkeit ist das Glück ein hervorragender Lehrmeister. Ich fürchte jedoch, wir waren bisher schlechte Schüler. Wir sind im Unterricht eingeschlafen. Diese einzelne Stunde wird ständig wiederholt. Noch immer verschlafen wir selig unser Leben, während sich etwas Speichel in unseren Mundwinkeln sammelt. Wachen wir allerdings auf, dann erkennen wir, dass es nur folgende Lektion zu lernen gilt:
Sein bedeutet Freiheit. Tun, ohne zuerst zu sein, bedeutet Unfreiheit. Sein ist der einfache Akt des Nicht-Handelns. Nicht-Handeln bedeutet: Wir werden erst der reinen Bewusstheit gewahr und beobachten dann, wie unsere Welt durch das Selbst erschaffen wird. Das Selbst zu kennen löst ganz mühelos Probleme auf und das Leiden, das sie mit sich bringen. Die Ergebnisse sind ein innerer Friede und ein Wohlstand, die unsere Träume weit übersteigen.
Innerer Friede stellt sich immer dann ein, wenn wir der reinen Bewusstheit gewahr sind. Sie mögen einwenden: „Ich bin schon gewahr.“ Das stimmt auch. Sie sind gewahr, dass Sie dieses denken und jenes tun. Aber sind Sie der reinen Bewusstheit gewahr? Alles Erschaffene kommt aus dem reinen Gewahrsein. Das erste erschaffene Ding, das erste Schimmern der Individualität, das aus dem reinen Gewahrsein geboren wird, ist das Selbst. Sind Sie Ihres Selbst gewahr? „Natürlich“, antworten Sie entrüstet, „ich bin gewahr, dass ich dieses Buch lese. Ich bin auch meines Körpers gewahr und dass ich einen Job und eine Familie habe.“ Diese Dinge machen das aus, was ich das „Ich“ nenne. Es sind die Besonderheiten Ihres persönlichen Lebens. Aber Ihr Selbst ist keineswegs das Gleiche. Wie Sie sehen werden, ist Ihr Selbst unbeschreiblich und unzerstörbar. Ihres Selbst gewahr zu sein, das bringt ein Element der Unzerstörbarkeit in Ihre Existenz. Wenn Sie unzerstörbar sind, verschwindet jeglicher Anlass zur Sorge und innerer Friede breitet sich aus. So einfach ist das. Wenn Sie Ihres Selbst gewahr werden, muss das zu innerem Frieden führen. Innerer Friede ist eine Begleiterscheinung eines Lebens frei von Problemen – aber er ist noch viel, viel mehr.
Bei Ihrer weiteren Lektüre dieses Buches wird eine erstaunliche Veränderung in Ihnen stattfinden. Zunächst wollen Sie vielleicht lernen, wie Sie insbesondere störende Emotionen oder Ihre Angst vor dem Tod lindern können. Das unterstütze ich, zumindest anfangs. Diese Art des Lernens entspricht dem Führen eines Kampfes. Der Angriffsplan lautet: das Problem mit Wissen und einer Technik in den Griff bekommen. Es ist nichts verkehrt daran, eine bestimmte Methode anzuwenden, um eine Art von Herausforderung auszuräumen, doch glauben Sie nicht, Sie könnten je genug wissen oder tun, um frei von Problemen oder in Frieden frei zu sein. Vielleicht verstehen Sie inneren Frieden nicht umfassend genug oder er liegt Ihnen nicht am Herzen, falls Sie ihn verstehen. Wie dem auch sei, das spielt keine Rolle. Diese Reise ist sehr persönlich, nur Sie können sie unternehmen. Ich habe keine Pläne für Sie. Ich habe eine Art Lebensstil entdeckt, der das „normale“ Leben mit einschließt, es aber unglaublich bereichert. Meine Absicht ist es, mich mit Ihnen dort zu treffen, wo Sie sich wohlfühlen. Es gibt zwar nur eine Tür, doch zu ihr führen viele Wege. Ich nähere mich dieser einzigen Lektion aus verschiedenen Richtungen an; so können Sie entscheiden, welche Ihnen am meisten zusagt. Eine leichte Verlagerung der Wahrnehmung kann, wie ich Ihnen zeigen werde, Ihre „Kampfneigung“ reduzieren und durch eine Geschmeidigkeit ersetzen, die das Leben annimmt, statt mit ihm zu kollidieren. Nur Angst und Leiden bleiben dabei auf der Strecke. Es ist ein reines Leben, das alle führen können, sofern sie sich dafür entscheiden. Ja, Ihr tiefster Wunsch, aus dem alle anderen hervorgehen, ist der Wunsch: „Erkenne dein Selbst!“ Er ist Ausgangspunkt und letztendliches Ziel. Während Sie ein Kapitel nach dem anderen lesen, werde ich Sie immer wieder daran erinnern. Er ist nicht nur das bestimmende Motiv dieses Buches, sondern auch sozusagen die „Strömung“, die unser ganzes Leben durchzieht, die Unterströmung unseres Lebens.
Bisher habe ich viele Fragen gestellt und nur wenige Antworten angedeutet. Die Antworten folgen noch. Erst müssen wir auf einige Punkte näher eingehen, doch in Kürze werde ich Ihnen die erste „Erfahrung“ Ihres Selbst anbieten. Achten Sie darauf, diese Übungen gewissenhaft durchzuführen, damit Sie von den Erfahrungen profitieren. Ich wünsche mir, dass diese Worte für Sie lebendig werden, und das kann nur geschehen, wenn Sie auch die „Musik“ hören, für die dieser Text geschrieben wurde.
Inwiefern unterscheiden sich reines Gewahrsein, Selbst und „ICH“ vom „Ich“?
Wörter beeinflussen uns stärker, als wir ihnen gewöhnlich zutrauen. Ich möchte ganz klar darlegen, was ein Wort bedeutet und wie es verwendet wird. Viele Menschen haben die unbefriedigende und letztlich destruktive Gewohnheit, zu einem Thema Stellung zu beziehen, ohne die verwendeten Schlüsselbegriffe eindeutig zu definieren. Ein Beispiel: Eine Frau fragt ihren Mann, ob er sie liebe. Er antwortet: „Ja, sehr.“ Und schon tänzeln sie die Straße der Glückseligkeit entlang, wobei beide glauben, Liebe bedeute für sie das Gleiche. Wenn diese Seligkeit Ahnungslosigkeit bedeutet, wird ihre Glückseligkeit nicht lange währen. Ihre Partnerschaft wird sie zwingen, genauer zu untersuchen, was Lieben bedeutet; andernfalls wird die Liebe langsam von innen heraus schwinden.
Bezweifeln auch Sie, dass viele Menschen bei „wackeligen“ Wörtern einen festen Standpunkt haben? Bitten Sie einen Freund, Ihnen die Begriffe „Freund“ oder „Terrorist“ ausführlich zu erklären oder den Geschmack einer Banane zu beschreiben. Diese Übung kann Ihnen die Augen öffnen. Die Beschreibung unterscheidet sich garantiert, vielleicht sogar signifikant von Ihrer eigenen Definition. Wir denken gern, andere sähen die Dinge genauso, wie wir sie wahrnehmen, doch das ist praktisch nie der Fall. Über die Menschen lässt sich nur das Eine mit Gewissheit sagen:
Jede und jeder ist anders. Unsere Sicht der Welt ist völlig einzigartig, niemand sieht sie so wie wir. Wir sind relative Wesen – zumindest leben wir so. Wir leben, als gäbe es keine Grundlage, keinen gemeinsamen Bezugspunkt, der für alle Menschen gilt. Wir ähneln Stäubchen, die ziellos in einem schwach beleuchteten Raum umherschweben.
Falls es einen universellen Bezugspunkt gäbe, welcher wäre das Ihrer Vermutung nach? Wäre er im äußeren Raum oder im inneren Raum, innerhalb des Geistes oder außerhalb davon? Nun, zufällig gibt es diesen einzigen Bezugspunkt, den die ganze Menschheit teilt. Nicht nur die Menschen teilen ihn, sondern alles Leben, die ganze Schöpfung. Es ist der Stoff der Weisen. Es ist das Selbst. (Anmerkung: Die Begriffe Selbst, „ICH“ [engl.: „I“] und „ICH BIN“ [engl.: „I Am“] sind in ihrer Bedeutung austauschbar und ermöglichen uns, dieses einzigartige Konzept des Selbst aus verschiedenen erhellenden Blickwinkeln zu betrachten.)
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