Das Bild mit den Ausschnitten der Thorarolle, die 1938 geschändet wurde, macht bewusst, wie sehr gerade uns Christen das Schicksal des jüdischen Volkes angeht. Die ersten fünf Bücher der Bibel, aus denen die beschädigten Worte kommen, erinnern an das Wort von Papst Johannes Paul II., der der Kirche ins Gedächtnis und ins Herz geschrieben hat, dass die Juden unsere , älteren Geschwister im Glauben' sind. Diese besondere Verwandtschaft bedeutet umso mehr Verpflichtung in der Anteilnahme und im Einsatz für eine wachsame Erinnerung.
Wer einmal die Gelegenheit hatte, in einer Synagoge an einer Bar-Mizwa-Feier teilzunehmen, hat erlebt, wie bei diesem Fest der Religionsmündigkeit eines jüdischen Jungen ihm der Gebetsschal umgelegt wird und ihm das Sch'mah Israel in einer Kapsel auf die Stirn gebunden wird. Zugleich überreicht man ihm einen silbernen Gebetsfinger wie ein Zeigestab. Dann öffnen ältere Männer eine kostbar dekorierte Thorarolle und zum ersten Mal darf der Jugendliche öffentlich aus der Thora lesen. Ihm wird Gottes Wort so anvertraut, wie es in Psalm 119 aus den Gebeten Israels zur Sprache kommt: „Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel? Wenn er sich h ält an dein Wort. (…) Gott, ich berge deinen Spruch im Herzen, damit ich gegen dich nicht sündige. Gepriesen seist du Herr, lehre mich deine Gesetze“ (Ps 119,9.11–12). Mit Jubelrufen und Tanz antwortet die umstehende Gemeinschaft auf diese Berührung mit dem Wort Gottes.
Wo Menschen sich Gottes Wort aneignen, ist geheiligter Boden. Wo Menschen Gottes Wort mit Füßen treten, tun sich Abgründe auf. Der 17-jährige Christ, der 1938 die beschädigten Ausschnitte der jüdischen Thora aus dem Dreck der Straße und dem Schmutz einer Gott und Menschen verachtenden Ideologie gerettet hat, betrachtete diesen Rest der Thora zeit seines Lebens mit Ehrfurcht und hat sie als Reliquie gegen das Vergessen gezeigt. Als er 1970 starb, wurde sie zum Vermächtnis einer Erinnerung, die nie verblassen darf.
2. Ursprünglichkeit als Auftrag 14
Jedes Jahr im Herbst, wenn die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda stattfindet, beginnen die Beratungen mit dem Gebet am Grab des heiligen Bonifatius. Dazu steigen alle Bischöfe hinab in die Krypta des Domes. Diese Schritte sind wie eine Berührung mit der Anfang der Kirche in unserem Land. Sie sind eine Begegnung mit dem Apostel der Deutschen im Gebet.
Am 5.Juni des Jahres 754 erlitt er mit zahlreichen Gefährten in Friesland den Martertod. Acht Jahre zuvor war er zum Bischof von Mainz geweiht worden. Ein Zeuge, der für unsere Heimat zum Halt im Glauben geworden ist. Zu seinem Andenken findet in Fulda jedes Jahr das große Bonifatiusfest statt.
Am Grab dieses großen Glaubenszeugen kann man unmittelbar spüren, was Papst Johannes Paul II. im Blick auf die Heiligen der Kirchengeschichte gesagt hat: „Heilige veralten nie; sie verlieren nie ihre Gültigkeit. Sie bleiben st ändig Zeugen für die Jugend der Kirche. Sie werden nie Menschen der Vergangenheit, Männer und Frauen von gestern. Im Gegenteil: Sie sind immer Männer und Frauen von morgen, Menschen der im Evangelium verheißenen Zukunft. Zeugen der kommenden Welt.“
Wer in die Krypta des Domes in Fulda hinabsteigt, begreift: ,Geschichte ist Geschichtetes'. Zeugnisse des Glaubens werden zum Fundament für neue Erfahrungen mit dem Evangelium, die sich aus bestandenen Herausforderungen bilden. Unser Glaube basiert auf Gewissheiten , für die Menschen vor uns einstehen.Wer sich an das Grab des heiligen Bonifatius begibt, begreift, dass seine Mission die Grundlage ist für ein Bekenntnis zu Jesus Christus und seiner Kirche in stürmischen Zeiten. Der Apostel der Deutschen schreibt in einem seiner Briefe: „Die Kirche, die wie ein großes Schiff auf dem Meer dieser Welt dahinf ährt und von den verschiedenen Flutwellen der Versuchungen hin und her geworfen wird, dürfen wir nicht verlassen; wir müssen vielmehr das Steuer ergreifen und sie auf Kurs halten.“
Die Kirche zur Zeit des Bonifatius war – wie wir heute – manchem Gegenwind ausgesetzt. Dieser große Missionar wusste darum, dass solche Zeiten immer beides beinhalten, die Versuchung, von Bord zu gehen, das Schiff treiben zu lassen, und die Gnade, die Gott gibt, wo Menschen treu bleiben.
Auch in der Krise, die die Kirche heute zu bestehen hat, ist bei manchen Christen die Versuchung groß, auszutreten oder sich zurückzuziehen. Gerade in solchen Stürmen brauchen wir Menschen mit der Festigkeit von Felsen in der Brandung. Zu allen Zeiten beginnt die Erneuerung der Kirche mit Christen, die sich aus Leidenschaft und Liebe für die Sache Jesu, für seine Kirche, zu eigen machen, was der heilige Bonifatius schreibt: „Lasst uns nicht wie stumme Hunde sein, nicht wie Menschen, die nur zusehen und schweigen. Lasst uns nicht wie Mietlinge sein,die fliehen,wenn der Wolf kommt.“
Nur wer bleibt, wird auch das andere erfahren: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung und Bew ährung Hoffnung“ (Röm 5,3–4). Diese Worte des Apostels Paulus sprechen an, wie Läuterung zu einer neuen Leidenschaft führt. Nicht zusehen, sondern hinsehen; nicht kritisieren, sondern engagieren;nicht lamentieren, sondern motivieren; diese Mentalität des heiligen Bonifatius zeigt, welchen Mut zur Mission die Kirche auch heute braucht. Heilige sind nie Menschen der Vergangenheit, sondern immer Zeugen für die Zukunft der Kirche.
3. Dialog als Weg 15
Die deutsche Bischofskonferenz hat im Herbst 2010 eine Dialoginitiative auf den Weg gebracht. Mit dieser Initiative verbinden sich in unserer Kirche und in der Gesellschaft viele Erwartungen. Gespräche unter Menschen, die Gott zu Wort kommen lassen, brauchen eine Gestalt, in der sich zuerst vermittelt: Der Glaube kommt vom Hören. Dialog in der Kirche unterscheidet sich in diesem Sinn von den Debatten der Welt. Wo Christen zusammenkommen, um miteinander danach zu fragen, welchen Weg Gott seine Kirche führen will, geht es um eine Haltung und Richtung, die das Zweite Vatikanische Konzil schon vor bald 50 Jahren angesprochen hat: ,die Zeichen der Zeit zu verstehen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten'. 16
Fruchtbarer Dialog unter Menschen bringt etwas in Bewegung,wo der Dialog mit Gott am Anfang steht.Aus dem gemeinsamen Gebet erwächst ein Geist des Gespräches, der die Begabung zum Hören, zum Verstehen und zum Sprechen weckt. Begegnungen bringen uns weiter, wo wir wahrgenommen werden, ausreden dürfen und selber zuhören können. Ein Gespräch irritiert, wenn wir merken, dass das Gegenüber innerlich schon in äußeren Gesten zur Gegenrede ansetzt und uns nicht anschaut, Während wir uns mitteilen. Wie abstoßend wirken manche Talkshows im Fernsehen, wo Menschen sich nur übertönen wollen. Ein Gespräch inspiriert, wo es eine Gelassenheit eröffnet, die schweigen und hören, denken und reden lässt. Ein Gespräch gelingt, wo Menschen die Erfahrung machen, die der Theologe Romano Guardini als Gebet formuliert: „Herr, gib mir das Wort, das mich neu erschafft, das Passwort meines Lebens.“
Dialog in Glaube und Kirche ist nicht voraussetzungslos. Es gibt ihn nur im Horizont des Glaubens.Er orientiert sich an den beiden Quellen des katholischen Bekenntnisses, der Heiligen Schrift und der kirchlichen Überlieferung. Er formt eine Spiritualität der Gemeinschaft, deren Kennzeichen Papst Johannes Paul II. darin sieht, ,den Blick auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu richten, das in uns wohnt und auf dem Angesicht der Schwestern und Brüder neben uns aufleuchtet' 17. Das Wesen des dreifaltigen Gottes ist Dialog. Wort und Antwort gehören zusammen.
Ein Dialog, der die Kirche als Zeichen für die Welt zur Sprache bringt, hat beides im Blick:Position in Kommunikation. Er formt ein Zeugnis und Bekenntnis, von dem Papst Benedikt XVI. sagt: „Rede und Antwort zu stehen für unseren Glauben setzt voraus, dass wir selbst den Grund des Glaubens verstanden haben, dass wir dieses Wort, das für die anderen wirklich eine Antwort sein kann, mit dem Herzen und auch mit dem Verstand wahrhaft verinnerlicht haben.“ 18
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