Wirklicher Dialog ist etwas anderes als Diskussion oder Debatte. Er braucht zuerst das Licht des Glaubens. In diesem Horizont findet die Kirche eine neue Strahlkraft im Leben.
Zweites Kapitel KriterienHaltungen geben Halt
„Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich. “
Röm 11,18
„Wurzel Jesse“, Freskengemälde im Hohen Dom zu Limburg,
spätromanisch mit Übermalung aus dem 17. Jahrhundert
I.Werte brauchen Wurzeln
Der Limburger Dom ist reich an Bildern. Viele kennen ihn von außen, seine Lage auf dem Felsen, seine Architektur und Geschichte. Ein Blickfang aus der Ferne, ein echter ,Hingucker' von der Autobahn – so wie man äußerlich einen Eindruck vom Glauben der Christen und vom Leben der Kirche hat.Betritt man das Innere des Domes,wird man hineingenommen in eine Bildwelt, die der Botschaft unseres Glaubens Gesichter gibt.Was von außen Stützen und Pfeiler zeigen, bekommt im Inneren eine Bedeutung. Was die Architektur an Statik vermittelt, geben die Bilder an Halt. So kann man die Wand im nördlichen Querschiff des Domes verstehen. Sie zeigt das bekannte Motiv der Wurzel Jesse, den Stammbaum Jesu. Das Gemälde ist so alt wie diese Kirche, über 750 Jahre.Auch wenn es im Laufe der Zeit überarbeitet und aufgefrischt wurde, seinen Ursprung hat es nicht verloren.
Es ist ein Bild des Anfangs! Es erzählt, wie Gott, der Schöpfer der Welt, in ihr selbst Mensch geworden ist. Es erinnert, wo wir herkommen, und es zeigt, was Menschen blüht, die glauben. Man sieht Wurzeln und Wachstum. Ganz unten die Heilige Sippe, der Jesus entstammt, in der Mitte der Baum der Generationen mit den Gesichtern der Vorfahren; Könige, die aus dem Stamm David hervorgegangen sind.Und ganz oben die Blüte: Maria mit dem Kind. In den seitlichen Flügeln stehen Mose und Aaron, die Propheten Jesaja und Ezechiel ganz im Dienst an einer Geschichte, die unsere Gegenwart ist.
1. Gegenwart aus Geschichte
Worte und Weissagung der Bibel geben uns Menschen Wurzeln. Im Horizont der Heiligen Schrift gewinnen wir die Inspiration zu fragen und zu sagen, woher der Mensch ist: aus Gott – und wo er zuhause ist:in Gott.Wo Gott ausdem Blick gerät, werden Menschen entwurzelt. Wo Gott nicht mehr vorkommt, ist der Mensch heimatlos. Diese Einsamkeit ist die größte Wunde unserer Zeit, die dann besonders wehtut, wenn der Mensch an Brüchen des Lebens radikal auf sich selbst verworfen wird. Mancher leidet gerade dann darunter, dass Ursprünglichkeit im Leben verloren gegangen ist.
Die größte Entwurzelung unserer Tage ist die Trennung des Menschen von Gott.Wo die Gabe des Lebens nicht mehr als Geschenk des Schöpfers gesehen wird, ist die Würde und der Wert des Menschen vor seiner Geburt, in der Krankheit und im Alter in Gefahr.Wo die Wirtschaft sich von Werten löst, geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.Wo sich das Klima der Erde erwärmt, zeigt sich, dass die Herzen der Menschen immer kälter werden, wenn es um eine gemeinsame Verantwortung für die Schöpfung geht. Wo sich die Einstellung zum Leben – auch im Sog eines neuen Atheismus – auf die Formel der Religionskritiker verkürzt, wird der Mensch entwurzelt: Sie sagen: „So viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. (…)“ Sie behaupten: „Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen.“ Sie meinen: „Die Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des Menschen“ (vgl. L. Feuerbach).
Christlicher Glaube spricht eine andere Sprache. So viel Wert Gott in dieser Welt bekommt, so viel Wert hat der Mensch.So weit wie Gott im Blick ist,so tief ist der Mensch verwurzelt. Davon spricht das Evangelium: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,12). Wo Gott dazwischenkommt,gewinnt der Mensch Halt.Wer in Gott verwurzelt ist, kann wachsen. Wo Gott nicht mehr vorkommen darf, wo das Kreuz aus den Klassenzimmern und den öffentlichen Räumen verschwinden soll, schrumpft der Mensch.
In seiner Erzählung „Der Ulmenstamm“ schreibt der russische Dichter Alexander Solschenizyn in Erinnerung an seine Zeit im Gefangenenlager: „Wir sägten Holz,griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf. Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde, war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden, man hatte ihn auf Lastwagen geworfen, zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen – aber der Ulmenstamm hatte sich nicht ergeben!Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht – eine ganze künftige Ulme oder einen dichten rauschenden Zweig. Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock; doch wagten wir nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden. Wie hätte man ihn zersägen können? Wie er doch leben will – stärker als wir.“ 1
Christlicher Glaube bringt die Botschaft, dass der Baum unseres Glaubens auch im Winter wächst. Die Geschichte Israels wird zur Gegenwart der Kirche: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“ (Jes 11,1). Wachstum braucht Richtung, so lehrt es uns die Natur, und das gilt auch für den Menschen. Zum Bistum Limburg gehört der Rheingau, eine mit Weinstöcken gesegnete Landschaft, in der man vieles lernen kann.Vor dem großen Frost des Winters sind die Winzer damit beschäftigt, die Reben auf das Maß eines Baumstumpfs zurückzuschneiden. Nur ein Trieb bleibt, in den alles Wachstum gehen soll. „Weinerziehung“ nennen sie diese Maßnahme der Botanik. Alle Kraft soll in einen Zweig gehen. Das gesamte Wachstum richtet sich auf einen Trieb. Ein Einschnitt, der notwendig ist, damit Neues werden kann.
Eine Einsicht, die uns ein altes Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert vermittelt: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart,wie uns die Alten sungen,von Jesse kam die Art, und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht“ (vgl. Gl 132,1).
Neues wächst, wo Einschnitte nötig sind. Wir bemerken es oft erst im Rückblick. Wo uns in winterlicher Zeit Verzicht abverlangt wird, kommt es zur Konzentration auf das We sentliche. In Kirche und Gesellschaft, im Beruf und in den Beziehungen sagt uns der christliche Glaube: Wo wir Gewohntes und Vertrautes lassen müssen, will Gott, dass wir uns nicht länger in einem Vielerlei verlieren, das uns zerstreut.
Der Blick auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zeigt uns den frischen Trieb aus dem Baumstumpf einer wechselhaften Lebens-, Welt-und Glaubensgeschichte. Die Bilder der Bibel zeigen die Wachsamkeit für das Wesentliche. Das Kind in der Krippe bewirkt die Konzentration auf das Kommende. Papst Benedikt XVI. hat sie im Blick, wenn er sagt: „In der Nacht von Bethlehem wird der Erlöser einer von uns, um auf den verfänglichen Wegen der Geschichte unser Begleiter zu sein. Ergreifen wir die Hand, die er uns entgegenstreckt: Es ist eine Hand, die uns nichts nehmen, sondern nur schenken will.“ 2
Wo es so scheinen mag, als Würde in winterlicher Zeit manches zurückgeschnitten und gestutzt, zeigt der junge Trieb, was christlicher Glaube bewirkt. Die Frucht aus dem Baumstumpf Isais kann nur wachsen, wenn es den Blick und die Besinnung auf die Blüte gibt, die unser Stammbaum des Glaubens zeigt. Hier sehen wir, was wir singen: „Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß, mit seinem hellen Scheine vertreibt's die Finsternis, wahr Mensch und wahrer Gott ... “
Maria mit dem Kind zeigt uns, welche vertraute Nähe entsteht,wo der Mensch des Glaubens Gottes Wort an sich heranlässt. Menschen blühen auf, wenn sie in einer Gemeinschaft leben, die trägt. Das wird uns bewusst, wenn wir unser eigenes Leben betrachten. Wir freuen uns über die echten Zeichen von Verbundenheit und wir leiden,wo Nähe verloren gegangen ist. Die Verbindung von Mutter und Kind im Bild der Blüte setzt sich fort in den Bildnissen der Schmerzhaften Mutter, der Pietà als Vesperbild. Menschen des Glaubens sind in der Solidarität des Lebens geborgen, die von der Krippe bis zum Kreuz geht. Die Botschaft der Bibel sagt uns: Wer glaubt, ist nie allein! Wer hofft, wächst über sich hinaus! Wer liebt, bleibt fest verwurzelt! Im Stammbaum Jesu haben wir vor Augen,was uns der christliche Glaube ins Herz pflanzt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ (Röm 11,18b). Die Gestaltung unserer Gesellschaft braucht mehr Wissen um diese Weisheit. Sie ist die Wurzel aller Werte, die Menschen in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Verantwortung füreinander wachsen lässt.
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