Sie hatte die Dreißig schon überschritten, als sich die Krankheit wieder meldete. Eine medikamentöse Behandlung seiner Frau lehnte Norbert strikt ab. Denn Medikamente hielt er für schädlich und gottlos. Theresas Zustand verschlechterte sich zusehends. Das Sprechen fiel ihr schwer, die Sprache wurde verwaschen, der Gang schwankend.
Der Hausarzt konnte nicht länger tatenlos zusehen, hielt eine Behandlung für unbedingt notwendig. Trotz aller Einwände des Ehemanns sorgte er für eine Einweisung in eine Rehabilitationsklinik in Felbring. Dort geriet sie an den Chefarzt Dr. Arany, der damals in Felbring praktizierte.
Doktor Arany hatte es nicht leicht. Denn Norbert gestattete für Theresa keine Spritzen. Am liebsten hätte er auch die Einnahme von Medikamenten verboten. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass die Schwestern in seiner Abwesenheit Pillen in Theresas Mund schleusten, die sich dem keineswegs widersetzte. Im Gegenteil, sie schluckte alles, was ihr gereicht wurde, gern.
Zu der Zeit hatte sie Norberts Kontrollwahn schon ziemlich satt. Freudig unterwarf sie sich ihm zuwiderlaufenden Willensäußerungen, nur um sich den strengen Erwartungen zu widersetzen. Die medikamentöse Behandlung ließ sie gern über sich ergehen. In Felbring fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Endlich konnte sie sich Norberts überstrenger Lebensordnung entziehen. In Felbring genoss sie einen Hauch lange vermisster Freiheit. Einzig die Kinder fehlten ihr. Doch Doktor Arany überzeugte sie, dass es unbedingt eines längeren Klinikaufenthalts bedürfe, um die Krankheit in Schach zu halten. Ein Problem sah Doktor Arany lediglich darin, dass Theresa auf jeden Fall eine Injektionsbehandlung brauchte. Die aber verbot Norbert, duldete hierbei keinen Widerspruch. Die Zeugen Jehovas erlauben ihren Gläubigen keine Bluttransfusionen. Norbert dehnte dieses Verbot auch auf Injektionen aus.
Der Doktor rang mit sich. Schließlich beschloss er, sich Norbert zu widersetzen. Eigentlich hätte er sich über Norberts Verbot einfach hinwegsetzen können. Doch diese Lösung verwarf er in Theresas Interesse. Bei einer Gelegenheit, als Norbert seine Frau besuchte, ließ er diesen zu sich ins Arztzimmer bitten, um mit ihm zu reden. Norbert versperrte sich auch weiterhin einer Injektionsbehandlung. Doktor Arany erklärte ihm, dass die Multiple Sklerose mittels moderner Injektionsbehandlungen gut zu beherrschen sei und die Verschlechterung der Symptome verhindert werden könnte. Norbert sei kein Fachmann, also stünde ihm auch nicht zu, die Anwendung zeitgemäßer Heilmethoden zu verbieten. Norbert akzeptierte das nicht und argumentierte vielmehr, dass die Heilung in Gottes Hand sei, weshalb er der Anwendung gottloser Methoden nicht zustimmen könne. Daraufhin wollte der Doktor ein Protokoll aufnehmen, wonach Norbert trotz fachlicher Argumente gegen eine Heilbehandlung protestiere. Der aber bestand darauf, Theresa zu dem Gespräch hinzuzuziehen.
Kaum dass Theresa das Arztzimmer betreten hatte, fiel Norbert über sie her, erklärte keinen Widerspruch duldend: „Einer solchen gottlosen Heilbehandlung darfst du nicht zustimmen!“
„Ja?!“ So Theresa. Dem Tonfall war allerdings nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob dieses ‚Ja‘ eine Frage oder eine Feststellung sein sollte.
Jetzt wandte sich Doktor Arany an Theresa: „Ich habe Ihnen doch die Vorteile der von mir vorgeschlagenen Heilbehandlung erläutert. Allem Anschein nach verbietet Ihr Mann diese Behandlung. Ich aber wäre jetzt auf Ihre Meinung neugierig. Wollen Sie sich dieser Heilmethode unterziehen?“
Theresa sah ihren Mann an, dann den Doktor. Schließlich stieß sie ein deutliches „Ja!“ hervor.
„Was heißt hier: Ja?“, tobte Norbert. „Theresa, das kannst du mir nicht antun!“
Theresa sah erst wieder Norbert, dann den Doktor an. Schwieg.
„Wenn Sie mit der Behandlung einverstanden sind“, so Doktor Arany, „müssen Sie eine Erklärung unterschreiben.“
Nach einer kurzen Pause Theresas Frage, wo sie unterschreiben solle.
„Hier!“, legte der Doktor die Erklärung zur Unterschrift hin. Theresa unterschrieb, während Norbert wutentbrannt den Raum verließ.
Also wurde in Felbring mit der Injektionsbehandlung begonnen, die der Doktor später in seiner Privatpraxis fortsetzte.
— —
Seit Theresa die Copaxone-Spritzen erhielt, stabilisierte sich ihr Zustand. Sie sah zu, dass sie die Sache vormittags erledigte, solange sich Norbert nicht zu Hause aufhielt. Denn der konnte sich mit diesem Eingriff in die göttliche Ordnung auch weiterhin nicht abfinden.
„Hatten Sie“, fragte der Doktor, „wegen der Spritzen Konflikte?“
„Der hat damit ewig Probleme. Er sähe es gern, würde ich die Behandlung abbrechen.“
„Und wie können Sie die Sache trotzdem lösen?“
„Ich muss die Ampullen und das Spritzenbesteck verstecken. In einem Fass im Keller. Dort wird er hoffentlich nicht danach suchen! Denn mein Nécessaire und die Medikamentenschachtel inspiziert er ständig. Die Spritzen gebe ich mir vormittags, wenn er arbeitet. Auch vor den Kindern halte ich die Behandlung geheim.“
Der Doktor nickte anerkennend.
„Mir geht es schon viel besser. Praktisch bin ich beschwerdefrei“, fuhr Theresa fort. „Auch meine Energielosigkeit und ständige Müdigkeit haben stark abgenommen. Ich bin optimistisch. Obwohl ich weiß, dass meine Krankheit nie ganz geheilt werden kann, versuche ich immer, allem eine gute Seite abzugewinnen.“
„Ich bewundere Ihren Optimismus. Nach all dem, was Sie durchgemacht haben, ist ihre positive Einstellung wirklich herzerfrischend.“
„Mit Lamentieren erreicht man nichts. Ich habe fünf Kinder, eine schöne Familie. Ich hätte auch eine verworfene rauschgiftsüchtige Person werden können. Bin ich aber nicht geworden. Sie wissen ja, wieviel ich Norbert zu verdanken habe. Das werde ich ihm nie vergessen und ihm mein ganzes Leben dankbar sein.“
Doch der Doktor wusste sehr wohl, welch hohen Preis Theresa dafür gezahlt hatte. Denn Norbert schränkte die persönliche Freiheit der jungen Frau stark ein. Doktor Arany meinte, dass Norbert, der die Fünfzig schon überschritten hatte, die hübsche junge Frau eifersüchtig von der Außenwelt abschottete. Durch die Kinder blieb Theresa keinerlei Zeit für sich selbst. Praktisch war Doktor Arany die einzige Möglichkeit, für eine kurze Zeitspanne dem Alltag zu entfliehen. Als hätte sie in Doktor Aranys Gedanken gelesen, meinte sie: „Sie denken bestimmt daran, wie heftig sich Norbert den Injektionen widersetzt hat.“
„Zweifellos!“
„Letztlich kann man auch Norbert verstehen. Außer den kirchlichen Lehren kann er sonst nichts akzeptieren. Aber eigentlich hat er ein gutes Herz! Man kann ihm alle Lasten der Welt aufbürden. Ich will damit nur sagen, dass sich unter seiner rauen Schale eine weiche Seele verbirgt. Die raue Schale freilich könnte ich manchmal an die Wand schmeißen.“
Der Doktor wurde hellhörig: „Also was nun, eine weiche Seele oder eine raue Schale, die Sie am liebsten an die Wand schmeißen würden?“
Theresa wurde nachdenklich. Anscheinend war durch das Bild mit der rauen Schale, die sie am liebsten an die Wand schmeißen würde, ein Damm gebrochen: „Ehrlich gesagt geht mir dieser Mensch manchmal auf den Keks. Obwohl ich in der Wohnung auf vorbildliche Ordnung bedacht bin, weil ich ja weiß, wie pedantisch und ordnungsliebend er ist, findet er immer ein Haar in der Suppe, einen Schnipsel oder Krümel auf dem Parkett. Bei so vielen kleinen Kindern kommt das leider vor, ist oft unvermeidlich. Und dann seine ewigen Eifersüchteleien. Damit treibt er mich in den Wahnsinn. Warum ich mit dem oder jenem gesprochen habe? Als würde ich gleich hinter dem nächsten Strauch mit einem von ihnen schlafen wollen. Fortwährend behandelt er mich so, als wäre ich eines von seinen Kindern. Ständig bin ich ihm Rechenschaft schuldig, ständig weist er mich zurecht und verbietet mir das Wort. Nichts kann ich ihm recht machen, immer mache ich etwas falsch.“
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