Ich stehe auf. Auf dem Weg zu der kleinen Treppe gehe ich rechts an den Reihen vorüber, in denen meine Kinder sitzen. Zum ersten Mal seit etwa zwanzig Jahren sind sie wieder einmal alle auf einem Fleck. Das war zum letzten Mal 1990 der Fall, als Kris und ich geheiratet haben; damals waren sie noch Kinder, die sich gegenseitig alle genauso großartig fanden, wie Kris und ich uns liebten. Es gibt viele Gründe dafür, wieso unsere Großfamilie auseinanderbrach, aber der Hauptgrund war wohl mein Versagen als Vater. Bei zu vielen Gelegenheiten habe ich meine Beziehung zu den sogenannten Jenner-Kindern aus meinen ersten beiden Ehen – Burt und Cassandra sowie Brandon und Brody – vernachlässigt. Und daher ist es jetzt einerseits wunderschön, die ganze Familie vereint zu sehen, andererseits hat das aber auch etwas Bittersüßes. Ich weiß, dass es nur ein kurzer Augenblick sein wird, der nicht einmal bis zur Afterparty hält.
Wie versprochen hilft mir Abby beim Hinaufsteigen. Ich stolpere nicht.
Die Kameras fangen es begeistert ein, als wir unsere kleine Pirouette vor der Kamera drehen.
Jetzt steht mir nur noch die Rede meines Lebens bevor.
Ich versuche, nicht ins Publikum zu gucken. Dutzende von Sportlegenden sitzen da unten. Meine Zeitgenossen. Der Basketballer LeBron James und der Footballer Brett Favre haben Plätze in der ersten Reihe; sie kann ich nicht übersehen. Was mögen sie gerade denken? Ich frage mich das immer, wenn Menschen mir gegenüber vordergründig nett sind. Wollen sie mir nur nach dem Mund reden, denken aber insgeheim etwas ganz anderes? Lügen sie? Manchmal wünschte ich mir, es gäbe jemanden, der sie privat interviewen könnte, um ihre wahren Gedanken aufzudecken, und nicht das Promi-Partygeschwätz mit Küsschen-Küsschen-Faktor. Finden sie es wirklich toll? Oder halten sie die ganze Sache einfach nur für sehr, sehr seltsam?
Ist das Kleid übertrieben, auch wenn es so perfekt geschneidert wurde? Hätte ich lieber in meinem Olympia-Trainingsanzug erscheinen sollen? LeBron legt immer viel Wert auf sein Äußeres, aber Brett Favre sieht manchmal so aus, als käme er gerade direkt aus einer Scheune. Von daher denke ich, dass ich bei LeBron bessere Chancen habe. Ich könnte mir vorstellen, dass ihm Versace gefällt, wenn auch vielleicht nicht in dieser Ausführung. Außerdem ist er sogar noch größer als ich und wesentlich muskulöser.
Zwar habe ich schon viele hundert Male vor vielen Menschen gesprochen, aber noch nie einen fertig vorbereiteten Text vorgetragen. Gewöhnlich schreibe ich höchstens ein paar Stichworte mit den wichtigsten Punkten auf. Das Ablesen einer Rede finde ich furchtbar, weil es unweigerlich auch immer wie abgelesen klingt. Aber dieses Mal ist alles anders. Für diese Ansprache habe ich mich mit einem professionellen Autor zusammengesetzt, mit Aaron Cohen. Wir haben uns mehrmals getroffen, und ich habe ihm gesagt, worüber ich gern reden möchte; er hat diese Ideen weiter ausgearbeitet. Am Schluss haben wir alles aufgeschrieben. Dieses Mal muss ich ganz genau wissen, was ich sagen werde. Ich kann nicht improvisieren wie sonst (oder vielmehr, wie meistens) und plötzlich in eine Sackgasse geraten.
Außerdem werde ich mit einem Teleprompter arbeiten. Die habe ich allerdings schon gehasst, als ich in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Sportmoderator für ABC und NBC gearbeitet habe, weil ich so langsam im Lesen bin. So etwas muss ich üben, aber glücklicherweise habe ich eine App auf meinem iPad entdeckt, die einen Teleprompter simuliert, mit der gleichen Schriftgröße und der gleichen Geschwindigkeit. Also habe ich mir den iPad auf einem hohen Hocker an meiner Breakfast Bar gegen ein Kissen gelehnt und laut abgelesen, während die Worte automatisch herunterscrollten. Nach ein paar Dutzend Malen hatte ich es bestens drauf.
Aber jetzt, da der Augenblick gekommen ist …
Plötzlich fühle ich mich wieder wie in der vierten Klasse in Tarrytown, als ich mit schweißnassen Handflächen dasaß, während der Lehrer den Mittelgang zwischen den Bänken entlangging wie ein Gefängniswärter und nach dem nächsten Opfer suchte, das laut vorlesen sollte. Ich höre das Kichern meiner Klassenkameraden, als ich ins Stocken geriet, und ich finde mich zunehmend mit der Tatsache ab, dass das eben Bruce war, und Bruce war doof. Wenn in meiner Grundschulzeit die Mannschaften beim Völkerball gewählt wurden, war ich immer der erste. Wenn es darum ging, wer sich beim Buchstabierwettbewerb als Erster wieder hinsetzen musste, aber auch.
Es hilft nichts, jetzt muss ich mich durchbeißen, und das tue ich. Widrige Umstände zu überwinden, das liegt mir. Das habe ich mein ganzes Leben lang getan, wenn auch noch nie in einer solchen Situation.
Inzwischen sehe ich auch LeBron James oder Brett Favre nicht mehr. Oder meine Kinder oder meine Mutter. Ich sehe gar keinen mehr, es ist, als ob jemand anderes diese Rede hält und ich nur ein interessierter Beobachter bin.
Ins Mikrofon sage ich:
Überall in diesem Land und überall auf dieser Welt gibt es jetzt, in diesem Augenblick, junge Menschen, die sich damit auseinandersetzen müssen, dass sie Transgender sind. Sie merken, dass sie anders sind, und sie versuchen damit umzugehen, neben allen anderen Problemen, die man als Teenager sowieso schon hat. Sie werden gemobbt, sie werden zusammengeschlagen, sie werden ermordet und sie begehen Selbstmord. Die Zahlen sind erschreckend hoch, aber sie zeigen die Realität dessen, was es heute bedeutet, trans zu sein.
Eines habe ich in meinem Leben gründlich kennengelernt, und das ist die Macht des Scheinwerferlichts. Manchmal ist sie auch eine Last, aber mit der Aufmerksamkeit kommt auch eine gewisse Verpflichtung. Millionen von Menschen beobachten, wie man sein Leben als Sportler führt, und vor allem Jugendliche lassen sich davon sehr beeinflussen.
Ich weiß, dass ich mit dieser Verantwortung im Reinen bin, dass ich meine Geschichte auf die richtige Weise erzählen will, dass ich weiter lernen und alles daran setzen werde, damit sich die Art und Weise ändert, wie Trans-Themen bewertet und wie Transgender-Menschen behandelt werden. Und ganz allgemein möchte ich gern dazu beitragen, dass man Menschen so nimmt, wie sie sind. Dass man akzeptiert, wie verschieden alle sind.
Die Transition war für mich schwerer als alles, was ich mir hätte vorstellen können. Und das ist für viele andere Menschen genauso. Schon allein aus diesem Grund verdienen Trans-Menschen etwas ganz Elementares. Sie verdienen Ihren Respekt. Und aus diesem Respekt kann eine zugewandtere Gemeinschaft erwachsen, eine empathischere Gesellschaft und eine bessere Welt für uns alle.
Die stehenden Ovationen, die ich bekomme, dröhnen in meinem Kopf lauter als die Beifallsrufe im Olympiastadion, als ich am Ende des 1500-Meterlaufs den Zehnkampf gewann. Auf alle Fälle haben sie viel mehr Bedeutung.
Und immerhin bin ich nicht gestolpert.
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