In der Oberstufe der Newtown High School in Sandy Hook, Connecticut, wohin wir inzwischen umgezogen waren, schlief ich zum ersten Mal mit einem Mädchen. Das Ganze fand auf dem Rücksitz eines schwarzen Ford Falcon Kombi statt, der meiner Mutter gehörte. Ich war ein totaler Romantiker. Das Einzige, woran ich mich heute noch ganz deutlich erinnere, war, dass sie viel besser Bescheid wusste als ich. Sie gefiel mir wirklich sehr, aber meine Hauptmotivation war Neugier. Und vielleicht fühlte ich mich auch ein bisschen unter Zugzwang und war bemüht, den äußeren Schein aufrecht zu erhalten. In der High School wusste halt jeder, wer mit wem schlief, und da war dies doch sehr förderlich für meine Tarnung.
Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Sportlern, die ich nach der High School noch kennenlernen sollte, führte ich über meine Eroberungen nicht Buch. Es wäre auch eine ziemlich kurze Liste gewesen.
Mein Bedürfnis nach Sex war einfach nicht sehr groß. Deswegen regt es mich auch so auf, wenn heutzutage dauernd über mein Sexleben spekuliert wird. Da spielt auch wieder diese uralte, falsche Annahme mit hinein, der Grund für eine Transition läge vor allem in der sexuellen Orientierung. Dauernd geht es um die Frage, was passiert, wenn ein Mann zur Frau wird und immer noch Sex mit Frauen hat, ob sie dann eine Lesbe ist oder nicht. Wen interessiert das? Warum muss auf alles immer gleich irgendein Etikett geklebt werden?
Meine Vorlieben haben sich nach meiner Transition nicht verändert. Warum sollten sie auch? Ich habe immer gern mit Frauen geschlafen, ohne viel darüber nachzudenken. Auf der Rangliste von Dingen, die in meinem Leben wichtig sind, hat Sex keinen großen Stellenwert, und das ist schon seit langer Zeit so. Ob ich in Zukunft gern eine Partnerin hätte? Ja, durchaus. Eine Partnerin, mit der ich dann auch schlafe? Im Augenblick gibt es sie nicht, und ich weiß auch nicht, ob sich das je ändern wird.
Und wie wäre es mit einem Partner, einem Mann? Bisher habe ich kein Verlangen danach gespürt. Aber vielleicht ändert sich auch das mit der abschließenden, geschlechtsangleichenden Operation. Vielleicht werde ich mich anders fühlen, wenn die letzten körperlichen Anhängsel meiner Männlichkeit, oder vielmehr meiner medizinisch definierten Männlichkeit, verschwunden sind. Manche meinen, dass es für eine Transfrau keinen Grund gäbe, eine solche OP durchführen zu lassen, wenn sie nicht beabsichtigt, Sex mit Männern zu haben. Ich möchte sie aber aus einem anderen Grund machen lassen – um mich so authentisch wie möglich zu fühlen.
Auf der High School ließ ich mich weitgehend treiben. Selbst im Sport hatte ich keinen brennenden Ehrgeiz, da sich noch nicht herauskristallisiert hatte, wie ich meine Vielseitigkeit am besten zum Einsatz bringen konnte. Im Stabhochsprung war ich gut, aber ich trat noch nicht in nationalen Wettkämpfen an. Und der Zehnkampf, der Decathlon? Das war für mich damals nichts weiter als ein Wort, von dem ich nicht einmal wusste, wie man es richtig schrieb. Ich gehörte nicht zu denen, die zum Sportler geboren wurden. Sicher, ich gewann gerne, aber ich war nicht nur auf Wettbewerb gepolt. Eine gewisse Unbeschwertheit blieb mir, sogar so sehr, dass ich nach dem Sieg im landesweiten Leichtathletik-Wettbewerb vergaß, meine Sportschuhe zu einem Fototermin der Lokalzeitung mitzubringen, sodass ich in Halbschuhen zwischen den anderen Athleten stand.
Nein, ich war wirklich nicht der Typ, dem eine große Sportlerkarriere vorherbestimmt war. Allerdings hatte ich Selbstdisziplin. Und ich konnte Dinge ausblenden, beispielsweise das Gender-Problem. Es war zwar unterschwellig immer da, aber in der High School hatte ich die Lage recht gut im Griff. Ja gut, wenn sich die Möglichkeit sich bot, zog ich immer noch Frauenkleider an. Aber das ergab sich nicht mehr so häufig. Da mir Moms Sachen inzwischen viel zu klein waren, ging ich jetzt an Pams Kleiderschrank. Ich bewunderte Frauen, und gleichzeitig war ich neidisch auf sie – nicht auf ihr Aussehen an sich, sondern darauf, wie sie in ihrem Frausein ruhten und mit sich eins waren, wo ich doch wusste, dass ich dieses Gefühl nie kennenlernen würde. Mit Männern war das genauso, auch sie waren zufrieden mit sich, auf eine Art, die ich niemals spüren würde. Mir kam es so vor, als hätte ich gar kein Geschlecht, als sei ich in der schlimmsten Position überhaupt gefangen – zwischen allen Stühlen.
Ella, die später auch regelmäßig in I Am Cait zu sehen war, hat andere Erfahrungen in ihrer High-School-Zeit gemacht. Sie hatte nie versucht, sich anzupassen, oder darauf geachtet, nicht aufzufallen. Sie färbte sich das Haar lila. Sie trug manchmal Kleider. Sie machte von Anfang an deutlich, dass sie ihre männliche Haut abstreifte. Sie feierte sich selbst, egal, was die anderen Schüler dachten.
Ihre Furchtlosigkeit habe ich immer unglaublich bewundert. Sie hat ihre wahre Gender-Identität nicht als Fluch, sondern als Segen und Befreiung verstanden. Manchmal frage ich mich, wieso ich das nicht auch getan habe, warum ich auf der High School nicht auch einfach gesagt habe, Scheiß drauf, ich mache mein Ding. Es gab dafür natürlich Gründe – die Zeiten waren anders, und nicht nur in meiner unmittelbaren Umgebung, sondern in ganz Amerika war die Gesellschaft sehr konservativ. Man hätte mich zu Seelenklempnern geschickt, die noch immer glaubten, dass es sich bei Genderdysphorie genau wie bei Homosexualität um eine Krankheit handele, die man mit barbarischen Methoden heilen könne, indem man den „Patienten“ mit Elektroschocks behandelt oder ihn dazu bringt, sich zu übergeben, während er sich homoerotische Bilder ansieht. Sicher hätte ich keinen Leistungssport mehr treiben dürfen. Wahrscheinlich hätte man mich auch von der Schule verwiesen. Aber vielleicht gab es davon abgesehen noch einen anderen, entscheidenderen Grund.
Ich hatte einfach nicht den Mut. Deswegen habe ich so lange gebraucht.
Ich wollte einfach nur dazugehören.
Als mein Schulabschluss näher rückte, wusste ich immer noch nicht wirklich, was ich einmal machen wollte, außer erst einmal zu studieren – unter anderem, weil das bedeutete, dass ich vom Kriegsdienst in Vietnam zurückgestellt würde. Obwohl ich in den fünf Semestern an der Newtown High in allen Sportarten, in denen ich dort aktiv war (Basketball, Football und Leichtathletik), immer wieder als herausragender Spieler ausgezeichnet wurde, rissen sich die Colleges nicht um mich.
Nur das Graceland College in Lamoni, Iowa, zeigte echtes Interesse. Ich wiederum fand Graceland nicht so prickelnd. Von Iowa wusste ich nur, dass die Winter dort kalt und die Landschaft flach sein sollen. Die Schule stand in enger Verbindung mit der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, heute bekannt als Gemeinschaft Christi. Auch über sie wusste ich nicht viel, außer, dass sie es mit der Religion verdammt ernst meinte.
Bis dahin war ich noch nie weiter im Westen gewesen als in Ohio. Und ich war auch erst einmal in meinem Leben geflogen. New York City erschien mir noch so weit weg wie die dunkle Seite des Mondes. Mit den Hippies hatte ich nichts am Hut, ich war so obrigkeitshörig und konservativ wie meine Eltern. Mein Plan sah daher zunächst vor, weiter daheim zu wohnen, um die Kosten gering zu halten, mir ein Junior College in der Nähe zu suchen, um meine Zensuren zu verbessern, schließlich einen vierjährigen Studiengang anzufangen und am Wochenende für die Baumschnitt-Firma meines Vaters zu arbeiten, um mir ein bisschen was nebenbei zu verdienen. Eigentlich hatte ich gar kein richtiges Ziel. Vielleicht war technisches Zeichnen was für mich. Ich wusste es einfach nicht so recht.
Als ich am ersten Tag von meinem Junior College zurückkam, erhielt ich einen Anruf.
„Hallo?“
„Können Sie morgen hier sein und für uns Football spielen?“
„Wer ist denn dran?“
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