In einem sind Deford und ich einer Meinung – meine Transition hat keinen besonderen Mut erfordert. Und was die Überwindung angeht, so habe ich wohl auch weiter nichts überwunden als die Tatsache, dass ich fast mein ganzes Leben lang fühlte, im falschen Körper zu stecken, aber zu viel Angst hatte, mich wirklich damit auseinanderzusetzen. Ich stand im Licht der Öffentlichkeit und fürchtete mich davor, lächerlich gemacht, angefeindet und verurteilt zu werden. Eben genau davor, was jemand wie Frank Deford im allgemeinen gesellschaftlichen Klima der Achtzigerjahre darüber gedacht hätte, wenn ich bei irgendeiner Preisverleihung der Sportwelt im Rock zu einer Rede ans Mikrofon getreten und zwischendurch mal aufs Damenklo verschwunden wäre, um mich frisch zu machen (immer vorausgesetzt, dass ich das überhaupt gedurft hätte).
Was die Unterstützung meiner Familie angeht, so war sie unglaublich. Mehr als unglaublich. Aber mein Coming-Out als Caitlyn liegt erst etwas mehr als einen Monat zurück, und jeden Tag frage ich mich aufs Neue, was meine Kinder aus meinen drei Ehen wirklich denken mögen, ob sie mich wirklich akzeptieren oder ob sie mich als eine beinahe Fremde betrachten, die diese Sache in dieser späten Lebensphase aus reinem Egoismus durchzieht. Dass ich so denke, sagt nichts über meine Kinder aus, aber viel über mich – ich fürchte noch immer eine Zurückweisung, ganz egal, wie sehr sie mir gezeigt haben, dass sie hinter mir stehen. Trotzdem wache ich morgens auf und denke über Gender und all diese Entscheidungen nach, die ich getroffen habe, und wenn ich schlafen gehe, beschäftigt mich das immer noch.
Als Caitlyn bin ich im Gegensatz zu Bruce eine öffentliche Person, die sich nicht mehr ins Private zurückziehen kann. Das verändert einen schon. Ich spüre Zweifel – kein Bedauern, das ist etwas anderes, und ich bedauere auch nichts. Zweifel fühlt fast jeder Mann und jede Frau direkt nach der Transition. Wenn man es getan hat, gibt es kein Zurück mehr. Niemals. Und jede Beziehung, die man einmal hatte, wird sich verändern – entweder, weil sie das wirklich tut, oder aber, weil man das erwartet. Damit will ich sagen, dass auch bei mir jede Menge auf dem Spiel steht: die Beziehung zu meiner Familie und der Rest meines Lebens.
Der andere Kritiker, der sich lautstark zu Wort gemeldet hat, ist der NBC-Sportmoderator Bob Costas. In der Dan Patrick Show wünschte Costas mir „alles Glück und allen Seelenfrieden der Welt”, fügte dann aber hinzu:
Dennoch kommt es mir so vor, dass die Verleihung des Arthur Ashe Awards an Caitlyn Jenner ein abgekartetes Spiel ist, das sich die Boulevardmedien ausgedacht haben.
In der großen Sportwelt hätte man doch sicherlich jemanden finden können – und das geht jetzt nicht gegen Caitlyn Jenner persönlich –, der sehr viel aktiver im Sport involviert ist und viel eher für das steht, was dieser Preis repräsentiert.
Costas ist ein großartiger Sportjournalist und Kommentator. Ich weiß, wie schwer dieser Job ist, ich habe mich ja auch schon darin versucht. Wenn er betont, dass es kein persönlicher Angriff gegen mich ist, glaube ich ihm das zwar, aber es klingt trotzdem ganz danach, und es impliziert offensichtlich, dass ich den Preis nicht verdiene. Dabei wurde er durchaus schon an Sportler verliehen, deren große Zeit noch länger zurücklag als bei mir.
Den größten Teil der Zeremonie verbringe ich in einer Suite des Ritz-Carlton-Hotels gegenüber vom Theater. Ich sehe mir die Show auch nicht im Fernsehen an, das würde mich nur noch nervöser machen. Etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten vor meinem Auftritt verlasse ich das Hotel durch den Hinterausgang und gehe zum Theater hinüber. Die kurze Wartezeit verbringe ich allein in einem kleinen Raum und übe zum wohl millionsten Mal meine Rede, achte auf die richtigen Betonungen, den richtigen Rhythmus, die richtige Geschwindigkeit, versuche keine Wörter zu verschlucken oder zu nuscheln. Allgemein fühle ich mich gut, aber beim Gedanken an die Treppe ist mir immer noch mulmig. Ich spüre eine Unruhe wie vor meinem schwächsten Wettkampf bei den Spielen, dem 110-Meter-Hürdenlauf, bei dem ich zwar ins Ziel kam, aber Fehler machte.
Es gibt ein Zitat von Booker T. Washington, das ich in leicht abgewandelter Form gern benutze: „Erfolg wird nicht an den erreichten Höhen gemessen, sondern an den überwundenen Hindernissen.“ Es hat nie besser gepasst als jetzt.
Abby Wambach, die Stürmerin des Frauen-Fußballteams der USA, das gerade die Weltmeisterschaft gewonnen hat, kündigt mich an. Hinter der Bühne begegnen wir uns zum ersten Mal.
„Hi.“
„Hi.“
Das ist ein bisschen kurz, aber egal - mir liegt etwas auf dem Herzen.
„Wenn ich die Treppe zur Bühne hinaufgehe, musst du mir helfen. Ich darf nicht stolpern. Bitte sorg dafür, dass ich das problemlos schaffe.“
„Okay, ich werde dich schon die Treppe hochbringen.“
„Ich brauche Unterstützung.“
Abby trägt einen Smoking, ich mein Abendkleid. Das ist eine ganz schlichte Symbolik und natürlich ein unwiderstehliches Fotomotiv – schöner könnte man nicht zeigen, wie viel Diversität es im Sport inzwischen gibt (auch wenn noch immer eine lange Strecke zurückzulegen ist).
„Wenn wir auf die Bühne kommen, immer vorausgesetzt, dass wir das ohne Panne schaffen, dann will ich, dass wir uns umdrehen, uns an die Hand nehmen und leicht verbeugen.“
Ja, ich denke immer klar, auch unter Druck.
Man führt mich zum Bühnenrand. Durch einen kleinen Spalt kann ich in den Saal schauen; er ist ziemlich gut besetzt.
Jetzt geht es los …
Ich suche Augenkontakt mit einer Frau im Publikum. Sie lächelt mich breit an und hebt den Daumen.
Vielleicht werden sie alle gut reagieren.
Während der Werbepause herrscht ein Kommen und Gehen im Zuschauerraum; einige Gäste verlassen kurz den Saal und Platzhalter nehmen ihre Stelle ein. Ich mische mich unter das Publikum und entdecke Diane Sawyer. Wenn ihr Interview nicht so akkurat dargestellt hätte, wie mein Leben bis zur Transition aussah, wäre ich jetzt vermutlich in der Antarktis und würde meine Geschichte von Täuschung und Selbstzerstörung den Pinguinen erzählen.
„Das ist alles Ihre Schuld“, raune ich ihr zu und fasse nach ihrer Hand.
Natürlich weiß ich, dass das alles hier eine ganz ernste Angelegenheit ist. Aber ich kann nicht ernst bleiben. Das war noch nie mein Stil. Humor ist immer die beste Ablenkung.
Etwas später sitze ich im Publikum und über die Videoleinwand flimmert ein Film über meinen Lebensweg. Ich habe ihn schon vor zwei Tagen gesehen – er ist schön und wertschätzend gemacht, und ich musste weinen, als ich ihn sah. Die Gegenüberstellung von Bruce und Caitlyn ist selbst für mich schockierend. Wie konnte der eine zur anderen werden, und der andere zu der einen? Ich weiß, dass Caitlyn seit Geburt meine Gender-Identität gewesen ist und nur auf den richtigen Moment gewartet hat, um Bruce in sich aufzunehmen. Aber manchmal bieten Antworten nicht wirklich eine Erklärung. Wie ich schon so oft zu mir selbst gesagt habe: Ich hatte ein absolut faszinierendes Leben.
Jetzt kann ich mir das nicht noch einmal ansehen. Es würde mir wieder fürchterlich nahe gehen, und dann könnte ich meine Rede nicht halten.
Abby ruft meinen Namen, ruft mich auf die Bühne. Neben mir im Publikum sitzt meine Mutter. Sie war die letzte, der ich von meiner Transition erzählt habe, weil ich wusste, dass es mir bei ihr am schwersten fallen würde. Sie ist neunundachtzig, und mir ist klar, dass es für sie nicht einfach gewesen sein kann – da glaubt man, es würde ein ganz normaler Tag in Lewiston, Idaho, und dann ruft der Sohn plötzlich an und erklärt: „Bevor ich es vergesse, Mom, ich wollte nur noch kurz Bescheid sagen, ich werde eine Frau.“
Ganz so war es natürlich nicht. Aber es hatte dieselbe Wirkung. Es gibt einfach keinen vernünftigen Weg, um so ein Gespräch zu beginnen. Meine Mutter war bemerkenswert verständnisvoll und unterstützend, obwohl sie gern zugibt, dass sie die ganze Geschichte mit meiner Weiblichkeit leichter verkraften kann, wenn sie sich einen kleinen Schluck gönnt.
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