Hochlieder auf Compton anzustimmen, war damals nicht sehr angesagt. Doch N.W.A pflegten damit eine etablierte Rap-Tradition: Sie standen in einer Reihe mit Boogie Down Productions, die der South Bronx ebenso Tribut zollten wie Run-DMC ihrer engeren Heimat, dem Stadtteil Hollis in Queens. „Wir wollten alle Compton und L.A. präsentieren“, sagte MC Ren. Cube war zwar nicht aus Compton, „aber es fühlte sich komisch an ‚South Central‘ zu brüllen, wenn alle anderen ‚Compton‘ schrien“, betont er. „Und außerdem sind Compton und South Central zwei Seiten ein und derselben Medaille.“
Den größten Einfluss auf Straight Outta Compton hatten wohl Public Enemy aus Long Island, New York, deren eigenes bahnbrechendes Album It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back nicht einmal zwei Monate zuvor erschienen war und Rap-Fans wie auch hippe, politisch wache Rockfans mit seiner Message von schwarzer Einheit und seinen Aufrufen zur Revolte gegen die Strukturen der Macht in seinen Bann zog. Public Enemy brachten revolutionäres Gehabe in Mode und läuteten das goldene Hip-Hop-Zeitalter Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre ein, zu dessen Vertretern auch A Tribe Called Quest und De La Soul gehörten. Es war eine Zeit positiv gesinnter Afrozentrik und erbaulicher Reime, bevor Macho-Posen die Oberhand über das Genre gewannen. N.W.A waren ein Teil dieser Bewegung – gleichzeitig aber auch nicht. Straight Outta Compton, das mehr einer Anarchie-Erklärung als einer durchstrukturierten Abhandlung glich, hatte wenig mit Public Enemys überschäumender positiver Einstellung gemein. Ice Cube empfand ein starkes Verantwortungsgefühl, doch Dr. Dre bezeichnete die Vorstellung, die Gruppe wäre politisch, als „Nonsens“. „Die schwarzen Polizisten in Compton sind schlimmer als die weißen“, sagte Eazy-E. „Chuck D kümmert sich um all den Schwarzen-Kram. Wir nicht. Scheiß auf den ganzen Black-Power-Shit! Uns ist das scheißegal. ‚Free South Africa‘? Uns doch egal. Ich glaube nicht, dass irgendwer in Südafrika einen Button mit ‚Free Compton‘ oder ‚Free California‘ trägt.“„Straight Outta Compton“ war dreist und schwungvoll, aber auch destruktiv. „Es war der beste Song auf dem Album“, sagte DJ Yella. „Er kam gleich zur Sache. Ohne Schönfärberei. Dort kommen wir her. Und es war ein Song, der nicht viel Zeit in Anspruch nahm, um ihn zu machen. Ein paar Tage vielleicht.“ Es gab damals kaum Präzedenzfälle für solch unverschämte, anarchische, im Straßenjargon vorgetragene Polemik. Cubes schlüpft in eine wütende, arrogante Rolle und will jeden zur Strecke bringen, der ihm keine Achtung entgegenbringt. Eazy-E ist ebenso gefährlich, aber gerissener – er will den großen Coup landen. Die explosive Figur, der MC Ren seine Stimme verleiht, könnte jeder Zeit hochgehen. Gemeinsam bilden sie ein überaus potentes Trio. Umso bemerkenswerter ist, dass Cube und Ren, der Eazys Parts schrieb, gerade einmal 19 Jahre alt waren, als das Album veröffentlicht wurde. Die beiden, die an aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 1969 zur Welt gekommen waren, erreichten als Performer bereits einen ersten Höhepunkt und pushten sich bei den Aufnahmesessions gegenseitig. Nach Mitternacht verbrachten sie den Rest der Nacht im Studio. Sogar wenn sie schon etwas abgeschlossen hatten, kam es vor, dass sie noch einmal eine Strophe veränderten, wenn der andere eine schärfere Performance hingelegt hatte.
Fuck tha Police
Der zweite Track des Albums, „Fuck tha Police“, wurde zu einem der bekanntesten Protestsongs in der Historie des Rap, wenn nicht sogar der Geschichte. „Fuck tha Police“, ein Protest gegen die Behandlung von Minderheiten durch die Polizei, diente seit den L.A. Riots 1992 bis zu den Demonstrationen in Ferguson, Missouri, die 2014 auf die Tötung des unbewaffneten 18-jährigen Michael Brown durch einen weißen Polizisten folgten, als Hymne von Protestbewegungen. Hunderte, wenn nicht tausende von Rappern, haben dem Song ihre Ehre erwiesen.
Ice Cube wird das Konzept des Songs zugeschrieben – und er wusste, wie provokativ die Message sein würde. „Wir hatten es satt, von der Polizei drangsaliert zu werden, bloß weil wir jung und schwarz waren. Daryl Gates hatte den Gangs den Krieg erklärt“, sagte Cube. „Und wenn man glaubt, dass jeder schwarze Jugendliche in einer Gang ist, dann heißt das, dass ein Krieg gegen alle schwarzen Kids geführt wird.“ Dre war anfangs nicht so begeistert. Ihm gefiel die Idee, aber er wollte seine persönliche Situation nicht noch verschärfen. Aufgrund seiner Verkehrsvergehen musste er 1988 an den Wochenenden einsitzen und wurde nur für die Werktage entlassen. „Er wollte nicht, dass der Song erscheint, während er noch ständig in den Knast einrücken musste“, erklärt Cube. „Aber als er das hinter sich gebracht hatte und ich die Idee noch mal aufbrachte, war er damit einverstanden.“
Laut Jerry Hellers Buch hingen die Mitglieder der Gruppe im Herbst 1987 vor Audio Achievements in Torrance ab, als aus dem Nichts die Polizei vorfuhr, die Musiker auf ihre Knie zwang und sie aufforderte, ihre Ausweise vorzuzeigen. Eine ähnliche Szene zeigt auch der Film Straight Outta Compton, woraufhin Cube einen Entwurf zu „Fuck tha Police“ schreibt. Alonzo Williams vermutet einen anderen Vorfall als Inspiration für den Song. Er erinnert sich an eine Spritztour von Eazy, Dre und anderen, bei der sie auf dem Harbor Freeway mit Paintball-Knarren auf andere Autos schossen. Als sie angehalten wurden, drückte man ihnen zunächst Pistolen an die Schläfen und legte ihnen Handschellen an, bevor die Cops sie wieder gehen ließen. „Sie kamen zu mir nachhause, zitterten wie Espenlaub an einem windigen Tag und waren den Tränen nahe“, schrieb Lonzo in seinen Memoiren. „Mann! ‚Fuck tha Police!‘“ Vielleicht meinte Eazy ja diesen Vorfall, als er sich gegenüber einem TV-Interviewer auf polizeiliche Schikanen bezog: „Ich wurde aus meinem Wagen gezerrt, mir wurde eine Waffe an den Schädel gehalten und ich wurde auf dem Freeway zu Boden gedrückt.“ Dre konkretisierte die Struktur des Songs und ahmte eine Aussage eines angeklagten Cops nach. In der Rolle des Richters verkündet Dre das Urteil: „Guilty of being a redneck, white bread, chickenshit motherfucker!“ D.O.C. verkörperte den verurteilten Polizisten mit besonders „weißer“ Stimme: „Fuck you, you black motherfucker!“
Reality-Rap
Die Mitglieder von N.W.A waren eigentlich eher schüchterne Zeitgenossen. Dr. Dre gibt selbst zu, an einer Sozialphobie zu leiden, und Eazy sagte während Meetings oft kein einziges Wort. Auch MC Ren war recht schweigsam. Arabian Prince war nicht allzu lange mit von der Partie. Und DJ Yella „konnte sich im Raum aufhalten, ohne das man ihn bemerkte“, schrieb Alonzo Williams. Cube war der einzige, den man nicht als introvertiert bezeichnen konnte. Aber zusammen war ihre Musik sogar noch aggressiver als die von Schoolly D oder Ice-T. „Die Mentalität dieser Typen hatte sich so stark verändert, dass ich sie gar nicht mehr richtig kannte“, ergänzte Lonzo. Überzeugt davon, dass ihr neuer Style die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen würde, blies die Gruppe mit Straight Outta Compton Gangsta-Rap zu einem ganzen Hip-Hop-Subgenre auf. Allerdings nannte es niemand Gangsta-Rap, vielmehr bevorzugten sie den Begriff „Reality-Rap“. „Wir erzählen die wahre Geschichte darüber, wie es ist, an Orten wie Compton zu leben. Wir vermitteln die Realität. Wir sind wie Reporter. Wir erzählen den Leuten die Wahrheit. Die Leute bei uns zu Hause hören so viele Lügen, dass sich die Wahrheit stark davon abhebt“, sagte Eazy. Das war nicht das retuschierte, optimistische schwarze Amerika, das die Bill Cosby Show oder DJ Jazzy Jeff & The Fresh Prince repräsentierten. „Was Jazzy Jeff und andere Rapper wie er aussagen, ist doch verlogen“, sagte MC Ren. „Sie berichten von Dingen, mit denen sich die weiße Welt und die weißen Kids identifizieren können. Wenn du ein schwarzer Jugendlicher von der Straße bist und jemand darüber rappt, dass dich deine Eltern nicht verstehen, dann kannst du nur lachen. Vielleicht hast du gar keine Eltern, oder sie sind auf Crack oder Prostituierte.“ Eazy behauptete weiterhin, dass es ihm nur ums Geld ging. Es war das Musikgeschäft, dem zuliebe Eazy mit dem Dealen aufgehört hatte – keine politischen Aspekte oder weil er so musikalisch begabt war wie Cube und Dre. Was Eazy an Rap-Talent fehlte, machte er mit seinem Weitblick und Marketing-Grips wett. Er bemerkte, dass im Radio nur saftlose Waschlappen gespielt wurden, und wollte diese Lücke schließen. Er machte keinen Hehl daraus, schockieren und einschüchtern zu wollen.
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