»Ihr wollt damit doch wohl nicht etwa sagen, dies sei der Junge, der Fieber hatte?«, fragte Mr. Grimwig und wich noch etwas weiter zurück. »Einen Augenblick! Sagt nichts! Halt …«, fuhr Mr. Grimwig fort, der im Triumphgefühl seiner Entdeckung plötzlich jegliche Furcht vor dem Fieber verlor, »das ist der Junge mit der Apfelsine! Wenn das nicht der Junge ist, Sir, der die Apfelsine gegessen und das Stückchen Schale auf die Treppe geworfen hat, will ich meinen Kopf fressen, und den seinen dazu.«
»Nein, nein, er war’s nicht!«, rief Mr. Brownlow lachend. »Kommt, setzt Euren Hut ab und sprecht mit meinem jungen Freund.«
»So etwas kann mich ungemein in Rage bringen, Sir«, sagte der reizbare alte Herr, während er seine Handschuhe abstreifte. »In unserer Straße liegen ständig irgendwelche Apfelsinenschalen auf dem Gehweg, mal mehr, mal weniger, und ich weiß , dass der Gehilfe des Knochenflickers an der Ecke sie dort hinwirft. Gestern abend ist eine junge Frau darauf ausgerutscht und stürzte gegen meinen Gartenzaun. Ich habe gesehen, wie sie, gleich nachdem sie aufgestanden ist, auf den teuflischen roten Weihnachtslampion vor seiner Praxis geblickt hat. ›Geht nicht dorthin‹, habe ich ihr aus dem Fenster zugerufen, ›das ist ein Meuchelmörder! Ein Fallensteller!‹ Und das ist er. Wenn nicht, dann …«
Hier stieß der jähzornige alte Herr kräftig seinen Stock auf den Boden, was seine Freunde immer als Darbietung des üblichen Angebots verstanden, wenn es nicht in Worten ausgedrückt wurde. Dann setzte er sich, den Stock noch immer in der Hand, klappte einen Kneifer auf, den er an einem breiten schwarzen Band befestigt trug, und betrachtete Oliver, der errötete, als er bemerkte, dass er einer Musterung unterzogen wurde, und sich ein weiteres Mal verbeugte.
»So, das ist also der Junge?«, fragte Mr. Grimwig schließlich.
»Das ist der Junge«, entgegnete Mr. Brownlow.
»Wie geht es dir, mein Junge?«, erkundigte sich Mr. Grimwig.
»Danke, Sir, schon sehr viel besser«, antwortete Oliver.
Mr. Brownlow, der zu befürchten schien, sein wunderlicher Freund sei im Begriff, eine unpassende Bemerkung zu machen, bat Oliver, die Treppe hinabzugehen und Mrs. Bedwin zu sagen, dass sie nun Tee trinken wollten, was er, da ihm das Benehmen des Besuchers alles andere als behagte, mit Freuden tat.
»Ein hübscher Junge, nicht wahr?«, meinte Mr. Brownlow.
»Weiß nicht«, erwiderte Mr. Grimwig verdrossen.
»Nicht?«
»Nein. Ich weiß es nicht. Für mich sehen alle Jungen gleich aus. Ich kenne bloß zwei Sorten von Jungen: solche mit Mehlgesichtern und solche mit Fleischgesichtern.«
»Und was hat Oliver?«
»Ein Mehlgesicht. Ein Bekannter von mir hat einen fleischgesichtigen Jungen, ein hübscher Knabe, heißt es, mit rundem Kopf, roten Bäckchen und glänzenden Augen. Ein grässlicher Kerl, dessen Leib und Gliedmaßen aus den Nähten seines blauen Anzugs zu platzen drohen, mit der Stimme eines Lotsen und dem Appetit eines Wolfs. Ich kenne ihn, diesen Lümmel!«
»Na, na, na«, rief Mr. Brownlow, »das sind aber nicht die Eigenschaften des kleinen Oliver Twist, also braucht Ihr Euch auch nicht über ihn aufzuregen.«
»Nein, das sind sie nicht«, erwiderte Mr. Grimwig, »aber womöglich hat er noch schlechtere.«
An dieser Stelle hüstelte Mr. Brownlow unwillig, was Mr. Grimwig das allergrößte Vergnügen zu bereiten schien.
»Womöglich hat er noch schlechtere, sage ich«, wiederholte Mr. Grimwig. »Wo kommt er her? Wer ist er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt. Na und? Fieber bekommen nicht allein gute Menschen, oder? Auch schlechte Menschen haben zuweilen Fieber, nicht wahr? Ich kannte einen Mann, der auf Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Der war sechsmal an Fieber erkrankt, ohne dass er deshalb begnadigt wurde. Pah, was für ein Unsinn!«
Nun verhielt es sich tatsächlich so, dass Mr. Grimwig tief im Inneren seines Herzens durchaus geneigt war, zuzugeben, dass Olivers Erscheinung und sein Betragen ungewöhnlich einnehmend waren, doch besaß er einen starken Hang zum Widerspruch, der bei dieser Gelegenheit noch durch den Fund der Apfelsinenschale angestachelt wurde, und da er fest davon überzeugt war, dass kein Mensch ihm vorschreiben könne, ob ein Junge gut aussieht oder nicht, war er von Anfang an entschlossen, sich seinem Freund zu widersetzen. Als Mr. Brownlow zugab, auf keinen der fraglichen Punkte eine befriedigende Antwort zu wissen und jede weitere Erforschung von Olivers Vergangenheit aufgeschoben zu haben, bis er den Jungen wieder für so weit bei Kräften hielt, dies ertragen zu können, kicherte Mr. Grimwig boshaft. Und er erkundigte sich hämisch, ob die Haushälterin auch jeden Abend das Besteck zähle, denn wenn sie nicht mal eines schönen Morgens ein oder zwei silberne Löffel vermissen werde, dann wolle er seinen Kopf … und so weiter und so fort.
All dies ertrug Mr. Brownlow, obwohl er selbst leicht aufbrausenden Charakters war, mit ruhigem Gemüt, weil er die Eigenheiten seines Freunds kannte, und da Mr. Grimwig sich beim Tee gütigerweise dazu herabließ, seiner vollsten Zufriedenheit mit dem Gebäck Ausdruck zu geben, blieb die Stimmung ungetrübt, und Oliver, der ihnen Gesellschaft leistete, begann sich in der Gegenwart des grimmigen alten Herrn ein wenig behaglicher als bisher zu fühlen.
»Und wann werdet Ihr einen vollständigen, wahrhaftigen und ausführlichen Bericht über Leben und Abenteuer des Oliver Twist zu hören bekommen?«, fragte Grimwig am Ende der Mahlzeit Mr. Brownlow, mit einem Seitenblick auf Oliver, als er den Gesprächsgegenstand wieder aufnahm.
»Morgen vormittag«, antwortete Mr. Brownlow. »Ich möchte dann lieber mit ihm alleine sein. Komm morgen früh um zehn Uhr zu mir herauf, mein Guter.«
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver. Seine Antwort kam leicht zögerlich, weil er verwirrt war, dass Mr. Grimwig ihn so scharf ansah.
»Ich will Euch mal was sagen«, flüsterte dieser Herr Mr. Brownlow zu, »er wird morgen früh nicht heraufkommen. Ich habe sein Zögern bemerkt. Er macht Euch was vor, mein lieber Freund.«
»Ich bin überzeugt, dass er es nicht tut«, entgegnete Mr. Brownlow leidenschaftlich.
»Wenn er’s nicht tut«, sagte Mr. Grimwig, »dann will ich …«, und stieß mit dem Stock auf den Boden.
»Ich bürge mit meinem Leben für die Aufrichtigkeit dieses Jungen!«, erwiderte Mr. Brownlow und klopfte auf den Tisch.
»Und ich mit meinem Kopf für seine Falschheit!«, rief Mr. Grimwig und klopfte ebenfalls auf den Tisch.
»Wir werden ja sehen«, sagte Mr. Brownlow, seinen aufsteigenden Zorn bezwingend.
»Das werden wir«, entgegnete Mr. Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln, »ja, das werden wir.«
Wie das Schicksal so spielte, kam in diesem Augenblick zufällig Mrs. Bedwin mit einem kleinen Packen Bücher herein, die Mr. Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler erworben hatte, den wir bereits aus unserer Geschichte kennen, legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen.
»Der Botenjunge soll noch warten, Mrs. Bedwin«, bat Mr. Brownlow, »ich möchte, dass er etwas mit zurücknimmt.«
»Er ist bereits wieder fort, Sir«, erwiderte Mrs. Bedwin.
»Dann ruft ihn zurück«, sagte Mr. Brownlow, »es ist wichtig. Er ist ein armer Mann, und die Bücher sind noch nicht bezahlt. Außerdem sollen ein paar andere Bücher zurückgebracht werden.«
Die Haustür wurde geöffnet, Oliver lief in die eine Richtung, das Dienstmädchen in die andere, und Mrs. Bedwin blieb auf der Schwelle stehen und rief nach dem Botenjungen, aber es war kein Botenjunge zu sehen. Oliver und das Mädchen kehrten ganz außer Atem zurück, nur um zu berichten, dass sie keine Kunde von ihm hatten.
»Ach du meine Güte, das tut mir aber leid«, sagte Mr. Brownlow, »vor allem wollte ich diese Bücher noch heute abend zurückgeben.«
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