»Dann war’s wohl ein Irrtum«, sagte Mr. Brownlow. Und obwohl es keinen Grund mehr für ihn gab, den Jungen weiterhin anzuschauen, drängte sich ihm der Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen Olivers Zügen und einem vertrauten Gesicht so stark auf, dass er seinen Blick nicht abzuwenden vermochte.
»Ich hoffe, Ihr seid nicht böse mit mir, Sir!«, sagte Oliver mit flehendem Augenaufschlag.
»Aber nein«, entgegnete der alte Herr. »Nanu! Was ist das? Bedwin, schaut einmal!«
Bei diesen Worten zeigte er aufgeregt zum Gemälde über Olivers Kopf und dann wieder auf das Gesicht des Jungen. Es war das leibhaftige Ebenbild. Die Augen, der Kopf, der Mund, jeder einzelne Zug war derselbe. Ihr Ausdruck stimmte in diesem Moment derart überein, dass noch die kleinste Linie mit erstaunlicher Sorgfalt nachgezeichnet schien.
Oliver erfuhr den Grund für diesen plötzlichen Ausruf nicht, denn da er noch nicht kräftig genug war, um den Schrecken, den er ihm einjagte, zu ertragen, wurde er ohnmächtig. Sein Schwächeanfall gibt der Erzählung die Gelegenheit, die Neugierde des Lesers zu befriedigen, was die beiden jungen Schützlinge des fröhlichen alten Herrn betrifft, und von ihnen zu berichten.
Als der Dodger und sein feiner Freund Meister Bates in das Zeter und Mordio einstimmten, das sich hinter Oliver erhob, weil sie sich – wie bereits geschildert – auf ungesetzliche Art und Weise den persönlichen Besitz von Mr. Brownlow angeeignet hatten, wurden sie von einer sehr löblichen und durchaus angebrachten Sorge um sich selbst ergriffen. Da die Unantastbarkeit der Person und die Freiheit des einzelnen zu den Dingen gehören, deren sich ein wahrer Engländer an erster Stelle und mit größtem Stolz rühmt, brauche ich den Leser nicht erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Tat dazu geschaffen ist, die Jungen in der Achtung aller guten Bürger und Patrioten steigen zu lassen, in fast genau demselben Maße, wie dieser nachhaltige Beweis der Sorge um ihre Sicherheit und Selbsterhaltung dazu dient, die kleine Sammlung von grundlegenden Gesetzen zu bekräftigen und zu bestätigen, die von gewissen tiefschürfenden Philosophen mit gutem Urteilsvermögen als Haupttriebfeder aller natürlichen Taten und Handlungen festgelegt wurde. Dabei reduzieren die besagten Philosophen das Vorgehen der gütigen Dame höchst weise auf eine Angelegenheit von Grundsätzen und Theorien, während sie als sehr nettes und hübsches Kompliment an ihre erhabene Weisheit und ihr Verständnis jegliche Erwägung von Herzensgüte, Großmut oder Gefühl gänzlich außer Acht lassen. Denn diese Dinge sind zutiefst unter der Würde eines Weibes, dem allgemein zugestanden wird, weit über den zahlreichen kleinen Fehlern und Schwächen ihres Geschlechtes zu stehen.
Bedürfte ich noch eines weiteren Beweises für die strikt philosophische Natur des Verhaltens dieser beiden jungen Herrn in ihrer misslichen Lage, fände ich ihn sofort in dem Umstand (ebenfalls in den vorigen Kapiteln nachzulesen), dass sie die Verfolgung abbrachen, sobald alle Aufmerksamkeit auf Oliver gerichtet war, und sich unverzüglich auf kürzestem Weg nach Hause begaben. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, es sei die übliche Gewohnheit namhafter und gelehrter Weiser, den Weg zu einer gewichtigen Schlussfolgerung kurz zu halten – tatsächlich begeben sie sich eher auf Umwege, indem sie sich in holprigen Umschreibungen und Abschweifungen ergehen, ganz so, wie Betrunkene es unter dem Druck eines allzu großen Mitteilungsbedürfnisses gern zu tun pflegen –, so möchte ich dennoch behaupten, und zwar ganz entschieden, dass es die eingefleischte Gewohnheit vieler bedeutender Philosophen ist, bei der Darlegung ihrer Theorien große Weisheit und Voraussicht walten zu lassen, indem sie sich gegen jede erdenkliche Möglichkeit absichern, dass ihre Schlussfolgerungen in irgendeiner Weise auch für sie selbst gelten könnten. Also darf man im Kleinen Unrecht begehen, um im Großen Recht zu bewirken, und man darf jegliches Mittel anwenden, das der angestrebte Zweck letztlich heiligt, denn es bleibt allein dem betreffenden Philosophen überlassen, das Ausmaß des Rechts oder das Ausmaß des Unrechts oder gar die Unterscheidung von beiden durch eine klare, umfassende und unbestechliche Prüfung seines besonderen Falles zu bestimmen und festzulegen.
Erst nachdem die beiden Jungen in hohem Tempo durch ein verschlungenes Labyrinth enger Straßen und Gässchen gerannt waren, trauten sie sich in einem niedrigen, dunklen Torweg wie auf Verabredung anzuhalten. Hier blieben sie nur so lange still, bis sie wieder genug Atem zum Sprechen geschöpft hatten, als Meister Bates auch schon einen freudigen Schrei ausstieß, sich von einem unbändigen Lachanfall gepackt auf einen Türtritt warf und sich dort ganz entfesselt vor Heiterkeit herumwälzte.
»Was’n mit dir los?«, erkundigte sich der Dodger.
»Hahaha!«, brüllte Charley Bates.
»Mach nich so’n Lärm«, ermahnte ihn der Dodger und schaute sich wachsam um. »Willst wohl geschnappt werden, du Blödmann!«
»Ich kann nix dafür«, sagte Charley. »Ich kann nix dafür. Zu komisch, wie er stiften ging, um die Ecken fegte und gegen Pfähle knallte, sich wieder aufrappelte und weiterrannte, als sei er grad wie sie aus Eisen. Und ich immer schreiend hinter ihm her, die Rotzfahne in der Tasche … ach, herrje!« Die lebhafte Phantasie des Meister Bates malte ihm die Szene in den schönsten Farben aus, so dass er an dieser Stelle wieder auf dem Türtritt umherrollte und noch lauter lachte als zuvor.
»Was wird Fagin wohl sagen?«, wollte der Dodger wissen, der einen Augenblick der Atemlosigkeit seines Freundes nutzte, um diese Frage zu stellen.
»Was?«, fragte Charley Bates.
»Ja, was?«, wiederholte der Dodger.
»Na, was soll er schon sagen?«, entgegnete Charley Bates, dessen Fröhlichkeit mit einem Schlag verflogen war, da ihn das Benehmen des Dodgers beunruhigte. »Was soll er schon sagen?«
Mr. Dawkins pfiff eine ganze Weile vor sich hin, nahm dann seinen Hut ab, kratzte sich am Kopf und nickte dreimal.
»Was meinst du?«, fragte Charley.
»Lirum larum Löffelstiel, für zwei Penny gibt’s nich viel, reiche Leute essen Speck, arme Leute fressen Dreck«, erwiderte der Dodger mit einem leicht hämischen Grinsen auf seinem listigen Gesicht.
Das war zwar eine Antwort, erklärte aber nicht viel. So empfand es zumindest Charley Bates, der abermals fragte: »Was meinst du?«
Der Dodger sagte nichts weiter, sondern setzte sich den Hut wieder auf, raffte die langen Schöße seines Rocks unter den Arm, beulte mit der Zunge eine Wange aus, schlug sich sachte, aber vielsagend ein halbes Dutzend Mal auf den Nasenrücken, machte auf dem Absatz kehrt und stahl sich durch das Gässchen davon. Meister Bates folgte ihm mit nachdenklicher Miene.
Wenige Minuten, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, störte das Geräusch von Schritten auf den knarrenden Treppenstufen den fröhlichen alten Herrn auf, der mit einer Zervelatwurst und einem kleinen Laib Brot in der Linken, einem Taschenmesser in der Rechten und einem Zinnkrug auf dem Dreifuß neben sich am Feuer saß. Ein verschlagenes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich umdrehte, mit stechendem Blick unter den buschigen roten Augenbrauen hervorsah, sein Ohr Richtung Tür wandte und aufmerksam lauschte.
»Nanu, was ist das?«, raunte Fagin, und seine Miene verfinsterte sich. »Nur zwei? Wo ist der dritte? Sie werden doch keinen Ärger bekommen haben? Horch!«
Die Schritte kamen näher, erreichten den Treppenabsatz. Langsam ging die Tür auf, der Dodger und Charley Bates traten ein und schlossen sie hinter sich.
Der verständige Leser wird mit einigen neuen Personen bekanntgemacht und erfährt dabei verschiedene erquickliche Dinge, die zu unserer Geschichte gehören.
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