»Wo ist Oliver?«, fragte der erzürnte Fagin, der sich drohenden Blicks erhob. »Wo ist der Knabe?«
Die jungen Diebe beäugten ihren Meister, als fürchteten sie seine Gewalt, und sahen einander voller Unbehagen an. Aber sie gaben keine Antwort.
»Was ist dem Jungen geschehen?«, fragte Fagin, packte den Dodger fest am Kragen und bedachte ihn mit schrecklichen Flüchen. »Rede endlich, oder ich erwürge dich!«
Mr. Fagin sah keineswegs aus, als würde er spaßen, so dass Charley Bates, dem es für alle Fälle klug erschien, auf der sicheren Seite zu sein, und der es durchaus nicht für unwahrscheinlich hielt, möglicherweise als nächster erdrosselt zu werden, auf die Knie fiel und einen lauten, lang anhaltenden Schrei ausstieß – irgendetwas zwischen tollwütigem Stier und Heulboje.
»Willst du wohl reden«, donnerte der alte Hehler und schüttelte den Dodger so heftig, dass es ein großes Wunder schien, warum dieser nicht aus seinem weiten Gehrock fiel.
»Na, die Greifer haben ihn geschnappt, das is alles«, sagte der Dodger störrisch. »Und jetzt lass mich endlich los!« Dabei wand er sich mit einem Ruck aus seinem weiten Gehrock heraus, der in den Händen des Alten hängenblieb. Dann schnappte sich der Dodger die Röstgabel und führte einen Stoß gegen die Weste des fröhlichen alten Herrn, der, hätte er getroffen, den Alten mehr Fröhlichkeit gekostet haben würde, als in ein oder zwei Monaten so ohne weiteres zu ersetzen gewesen wären.
Fagin sprang in seiner Not zurück, weitaus behender, als man es bei einem Mann von solch augenscheinlicher Hinfälligkeit erwartet hätte, griff den Krug und wollte ihn seinem Angreifer an den Kopf schleudern. Doch da in diesem Augenblick Charley Bates mit einem besonders grässlichen Geheul alle Aufmerksamkeit auf sich zog, änderte er plötzlich sein Ziel und warf den Krug mit voller Wucht nach diesem jungen Herrn.
»He, was zum Teufel is’n hier los?«, knurrte eine tiefe Stimme. »Wer schmeißt da nach mir? Zum Glück hab ich nur das Bier und nich den Krug abgekriegt, sonst hätt ich jetzt jemand vertrimmt. Hätt ich ja wissen könn, dass nur’n verfluchter, reicher, diebischer und verlogener alter Hehler sich leisten kann, auch’n andres Getränk als Wasser wegzuschütten, wo er obendrein seine Wasserrechnung eh nie bezahlt. Was soll das, Fagin? Gottverdammich, wenn mein Halstuch nich voller Bierflecken is! Komm schon, du elender Wurm, was bleibste denn da draußen, schämste dich vielleicht für deinen Herrn? Komm endlich rein!«
Der Mann, der diese Worte knurrte, war ein kräftig gebauter Bursche von ungefähr fünfunddreißig Jahren, der einen Gehrock aus schwarzem Baumwollsamt trug, dazu verdreckte graubraune Kniehosen, geschnürte Halbstiefel und graue Baumwollstrümpfe, in denen ein paar stämmige Beine mit dicken Waden steckten – die Sorte von Beinen, die in einem derartigen Aufzug immer so aussehen, als würde ihnen ohne die Zierde einer Garnitur Fußfesseln etwas fehlen. Auf dem Kopf trug er einen braunen Hut, und um den Hals ein schmutziges buntes Tuch, mit dessen langen ausgefransten Enden er sich beim Sprechen das Bier abwischte, woraufhin ein derbes, breites Gesicht samt Dreitagebart zum Vorschein kam, und zwei finster blickende Augen, von denen das eine durch bunt schillernde Farben verriet, dass es vor kurzem durch einen Hieb lädiert worden war.
»Komm rein, willste wohl hörn!«, knurrte dieser reizende Geselle.
Ein struppiger weißer Hund, der an wohl zwanzig verschiedenen Stellen an Kopf und Leib zerkratzt und zerschunden war, kam ins Zimmer geschlichen.
»Warum biste nich gleich gekommen?«, fragte der Mann. »Bist wohl zu stolz geworden, dich mit mir blicken zu lassen, was? Platz!«
Dieser Befehl wurde von einem Tritt begleitet, der das Tier ans andere Ende des Zimmers beförderte. Der Hund schien jedoch daran gewöhnt, denn er rollte sich ganz ruhig in einer Ecke zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war anscheinend damit beschäftigt, das Zimmer zu begutachten, wobei er mit seinen entzündeten Augen etwa zwanzigmal in der Minute blinzelte.
»Was treibst du hier? Die Jungs piesacken, du lüsterner, habgieriger, un-er-sätt-li-cher alter Hehler?«, sagte der Mann und setzte sich gemächlich hin. »Ich frag mich, warum se dich nich umbringen. Ich würd’s an ihrer Stelle tun. Wär ich dein Lehrjunge, hätt ich’s schon längst getan, und … nee, hinterher verkaufen hätt ich dich gar nich können, denn du bist ja zu nix zu gebrauchen, außer um als hässliche Kuriosität in nem Einmachglas voll Spiritus aufbewahrt zu werden, und ich glaub, so große Einmachgläser gibs gar nich.«
»Pst! Seid doch still, Mr. Sikes!«, sagte Fagin zitternd. »Sprecht nicht so laut.«
»Hör bloß auf mit ›Mr. Sikes‹!«, erwiderte der Schurke. »Das bedeutet nie Gutes, wenn du damit kommst. Du weiß doch, wie ich heiße, also heraus damit! Ich werd meinem Namen schon keine Schande machen, wenn’s soweit is.«
»Schon gut, schon gut, also … Bill Sikes«, sagte Fagin mit erbärmlicher Unterwürfigkeit. »Du scheinst schlechte Laune zu haben, Bill.«
»Vielleicht«, entgegnete Sikes. »Man könnte jedoch denken, du wärst selbst ein wenig verstimmt, es sei denn, du meinst das Werfen von Zinnkrügen genauso wenig bös wie deine Ausplaudereien und …«
»Bis du verrückt!«, rief Fagin, packte den Mann am Ärmel und deutete auf die Jungen.
Mr. Sikes begnügte sich damit, unter seinem linken Ohr einen imaginären Knoten zu knüpfen und seinen Kopf mit einem Ruck auf die rechte Schulter fallen zu lassen, eine Pantomime, die Fagin voll und ganz zu verstehen schien. Dann verlangte er in Gaunersprache, mit der seine Rede reichlich gespickt war, jedoch unverständlich bliebe, wollten wir sie hier wiedergeben, ein Glas Schnaps.
»Und misch mir ja kein Gift rein«, sagte Mr. Sikes und legte seinen Hut auf den Tisch.
Das war im Scherz gesagt, doch hätte Sikes den scheelen Seitenblick gesehen, mit dem sich Fagin auf seine bleichen Lippen biss und zum Schrank umdrehte, würde er sich gedacht haben, dass durchaus Vorsicht geboten sein könnte, oder ihm wäre zumindest aufgefallen, dass der Wunsch, die Kunst des Schnapsbrenners noch ein wenig zu verfeinern, dem Herzen des fröhlichen alten Herrn zumindest nicht allzu fern lag.
Nachdem er zwei oder drei Glas Schnaps hinuntergekippt hatte, ließ sich Mr. Sikes dazu herab, von den jungen Herren Notiz zu nehmen. Diese gnädige Tat führte zu einer Unterredung, in deren Verlauf das Wie und Warum von Olivers Festnahme ausführlich und in allen Einzelheiten dargelegt wurden, mit so vielen Abänderungen und Verbesserungen, wie sie dem Dodger unter den gegebenen Umständen ratsam erschienen.
»Ich fürchte«, meinte Fagin, »er könnte etwas sagen, das uns in Schwierigkeiten bringt.«
»Höchstwahrscheinlich«, warf Sikes mit einem hämischen Grinsen ein, »hat er dich verpfiffen, Fagin.«
»Und wisst ihr, ich fürchte«, fuhr der alte Hehler fort, als habe er die Unterbrechung überhaupt nicht bemerkt und sah dabei den anderen scharf an, »ich fürchte, wenn das Spiel für uns aus ist, könnte es auch für viele andere aus sein, und es würde dich wohl schlimmer treffen als mich, mein Freund.«
Der Mann sprang auf und wandte sich wütend gegen den Alten. Aber Fagin hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und starrte mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand an.
Es trat ein langes Schweigen ein. Jedes Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft schien in seine eigenen Gedanken versunken, sogar der Hund, der sich boshaft die Lefzen leckte und darauf aus schien, die Beine des erstbesten Menschen – Dame oder Herr –, dem er draußen auf der Straße begegnen würde, zu attackieren.
»Jemand muss rausfinden, was auf der Polizeiwache geschehen ist«, sagte Mr. Sikes viel leiser, als er seit seiner Ankunft gesprochen hatte.
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