»Das sind eine Menge Bücher, nicht wahr, mein Junge«, sagte Mr. Brownlow, als er die Neugier bemerkte, mit der Oliver die Regale betrachtete, die vom Fußboden bis unter die Decke reichten.
»Und was für eine Menge, Sir«, entgegnete Oliver. »So viele habe ich noch nie gesehen.«
»Du sollst sie zu lesen bekommen, wenn du brav bist«, sagte der alte Herr freundlich, »und es wird dir besser gefallen, als sie bloß anzuschauen … das heißt, in manchen Fällen, denn es gibt tatsächlich Bücher, bei denen Einband und Rücken die bei weitem interessantesten Dinge sind.«
»Das sind vermutlich diese schweren Wälzer da, Sir«, meinte Oliver und zeigte auf einige große Quartbände, deren Einband reichlich vergoldet war.
»Nicht immer«, erwiderte der alte Herr und strich Oliver lächelnd übers Haar, »es gibt andere, die, obwohl von kleinerem Format, ebenso schwer sind. Wie würde dir das gefallen, ein gescheiter Mann zu werden und Bücher zu schreiben?«
»Ich glaube, ich würde sie lieber lesen, Sir«, antwortete Oliver.
»Na so was! Du möchtest gar kein Schriftsteller werden?«, rief der alte Herr.
Oliver dachte kurz nach und sagte schließlich, es erschiene ihm weitaus lohnender, Buchhändler zu werden, woraufhin der alte Herr herzlich lachte und meinte, Oliver hätte da etwas sehr Treffendes gesagt. Darüber war Oliver froh, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, was es gewesen sein mochte.
»Schon gut«, sagte der alte Herr und sammelte sich wieder. »Keine Angst, wir werden keinen Schriftsteller aus dir machen, solange man noch ein ehrbares Handwerk erlernen oder Ziegelbrenner werden kann.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Oliver. Über diese ernsthaft vorgebrachte Antwort musste der alte Herr erneut lachen und bemerkte etwas über einen erstaunlichen Instinkt, dem Oliver aber, da er es nicht verstand, keine große Beachtung schenkte.
»Und jetzt, mein Junge«, sagte Mr. Brownlow, in einem womöglich noch freundlicheren, aber zugleich auch ernsthafteren Ton, als Oliver bisher von ihm gehört hatte, »möchte ich, dass du genau darauf achtgibst, was ich sage. Ich werde ganz offen mit dir reden, denn ich weiß, dass du mich ebenso gut verstehen wirst wie manch ein Älterer.«
»Oh, sagt mir nicht, dass Ihr mich fortschicken wollt, Sir, bitte nicht!«, rief Oliver aus, beunruhigt von dem ernsten Tonfall, mit dem der alte Herr seine Rede begann. »Setzt mich nicht vor die Tür, ich mag nicht wieder durch die Straßen irren. Lasst mich hierbleiben, Euch zu Diensten sein. Schickt mich nicht zurück an den schrecklichen Ort, von dem ich komme. Habt Erbarmen mit einem armen Jungen, Sir!«
»Mein liebes Kind«, entgegnete der alte Herr, bewegt von der unerwarteten Erregung, mit der Oliver seine Bitte vortrug, »du brauchst nicht zu befürchten, dass ich dich im Stich lasse, solange du mir keinen Grund dazu gibst.«
»Das werde ich niemals tun, Sir, niemals«, unterbrach ihn Oliver.
»Das hoffe ich«, erwiderte der alte Herr, »und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Zwar habe ich mich früher schon getäuscht in Leuten, denen ich Gutes tun wollte, dennoch fühle ich mich sehr geneigt, dir zu vertrauen, und nehme größeren Anteil an dir, als ich es mir selbst so recht erklären kann. Die Menschen, denen meine innigste Liebe galt, liegen kalt in ihren Gräbern, aber auch wenn das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben wurden, so habe ich aus meinem Herzen doch keinen Sarg gemacht und mich den besten meiner Gefühle auch nicht für immer und ewig verschlossen. Das tiefe Leid hat sie nur gestärkt und geläutert.«
Während der alte Herr das sagte, mit gedämpfter Stimme und mehr zu sich selbst als zu seinem Gegenüber, und danach für eine kurze Weile schwieg, blieb Oliver ganz still sitzen.
»Na schön«, fuhr der alte Mann in etwas muntererem Ton schließlich fort, »ich sage dies bloß, weil dein Herz noch jung ist, und wenn du weißt, dass ich viel Kummer und Schmerz erlitten habe, wirst du vielleicht achtsamer sein und mich nicht erneut verletzen. Du sagst, du seist eine Waise, ohne irgendeinen Verwandten auf der Welt, und alle Erkundigungen, die ich einziehen konnte, haben diese Behauptung bestätigt. Erzähle mir deine Geschichte, woher du kommst, wer dich großgezogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich angetroffen habe. Sprich die Wahrheit, und dir soll nie ein Freund fehlen, solange ich lebe.«
Olivers Rede wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen, und als er schildern wollte, wie er im Heim aufgewachsen war und Mr. Bumble ihn ins Armenhaus brachte, ließ sich unten an der Haustür ein höchst ungeduldiges, kurzes Doppelklopfen vernehmen, und das Dienstmädchen kam die Treppe heraufgeeilt, um einen Mr. Grimwig zu melden.
»Kommt er herauf?«, erkundigte sich Mr. Brownlow.
»Jawohl, Sir«, erwiderte das Dienstmädchen. »Er hat gefragt, ob es im Hause irgendwelches Gebäck gäbe, und als ich bejahte, meinte er, er sei zum Tee gekommen.«
Mr. Brownlow lächelte und erklärte an Oliver gewandt, Mr. Grimwig sei ein alter Freund von ihm, und er solle sich nicht an dessen zuweilen etwas rauhem Umgangston stören, denn er sei in Wahrheit ein guter Kerl, wie er aus gutem Grunde wisse.
»Soll ich nach unten gehen, Sir?«, fragte Oliver.
»Nein«, antwortete Mr. Brownlow, »ich hätte lieber, dass du hierbleibst.«
In diesem Augenblick spazierte, auf einen dicken Stock gestützt, ein beleibter älterer Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein ein wenig lahm und trug einen blauen Gehrock, eine gestreifte Weste, Nankinghosen, Gamaschen und einen weißen Hut mit breiter, hochgeschlagener Krempe, die auf der Unterseite grün war. Eine zierlich gefältelte Hemdkrause schaute oben aus seiner Weste heraus, und unten lugte eine sehr lange stählerne Uhrenkette, an deren Ende bloß ein Schlüssel befestigt war, hervor. Die Enden seines weißen Halstuchs waren zu einem Ball von der Größe einer Apfelsine verschlungen, und die mannigfachen Mienen, zu denen er sein Gesicht verzog, waren unbeschreiblich. Er besaß die Angewohnheit, den Kopf beim Sprechen zur Seite zu drehen und einen dabei zugleich aus den Augenwinkeln anzusehen, was jeden Betrachter unweigerlich an einen Papageien erinnerte. In dieser Haltung verharrte er, sobald er eingetreten war, und rief – während er ein Stückchen Apfelsinenschale mit ausgestrecktem Arm von sich hielt – mit knurrender, missmutiger Stimme aus:
»Schaut her, seht Ihr das? Ist es nicht eine höchst seltsame und außergewöhnliche Sache, dass ich keines Menschen Haus betreten kann, ohne ein Stückchen von diesem elenden Freund aller Knochenflicker auf der Treppe zu finden? Eine Apfelsinenschale hat mich einst lahm gemacht, und ich weiß, dass eine Apfelsinenschale schließlich mein Tod sein wird. Verlasst Euch darauf, Sir, eine Apfelsinenschale wird mein Tod sein, oder ich will meinen Kopf fressen, Sir!«
Mit diesem freundlichen Angebot pflegte Mr. Grimwig beinahe jede Behauptung, die er tat, zu bekräftigen, und das war in seinem Fall umso eigentümlicher, da – selbst wenn man einmal theoretisch die Möglichkeit in Betracht zöge, dass der wissenschaftliche Fortschritt eines Tages einem Herrn erlaube, seinen eigenen Kopf zu verschlingen, falls es ihn danach gelüste – Mr. Grimwigs Kopf so ungewöhnlich groß war, dass selbst der zuversichtlichste Mensch auf Erden kaum die Hoffnung hegen konnte, ihn mit einem Male zu verspeisen, ganz zu schweigen von der äußerst dicken Puderschicht.
»Dann will ich meinen Kopf fressen, Sir«, wiederholte Mr. Grimwig und stieß seinen Stock auf den Boden. »Hallo, wen haben wir denn da?«, rief er beim Anblick Olivers und trat ein oder zwei Schritte zurück.
»Das ist der kleine Oliver Twist, von dem wir gesprochen haben«, sagte Mr. Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
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