In ihrem schrecklichen Zustand voller Bangen und Ungewissheit wankte die verzweifelte junge Frau zum Tor und kehrte dann, indem sie von ihrem strauchelnden Gang in einen sicheren, schnellen und steten Laufschritt wechselte, auf den gewundensten und verwirrendsten Wegen, die sie sich ausdenken konnte, zum Domizil des alten Hehlers zurück.
Kaum hatte Mr. Bill Sikes den Bericht über ihren Ausflug vernommen, als er auch schon seinen weißen Hund rief, sich den Hut aufsetzte und davoneilte, ohne irgendwelche Zeit mit der Förmlichkeit zu verschwenden, der Gesellschaft einen »Guten Morgen« zu wünschen.
»Wir müssen herausbekommen, wo er steckt, meine Lieben, wir müssen ihn finden«, rief Fagin in heller Aufregung. »Charley, du wirst dich so lange umhören, bis du mit Nachricht über ihn heimkommst! Nancy, Teuerste, ich muss ihn finden. Ich verlass mich voll und ganz auf dich, meine Liebe – auf dich und den Dodger! Wartet, wartet«, fuhr der alte Hehler fort und öffnete mit zittriger Hand eine Schublade. »Da habt ihr Geld, meine Freunde. Ich werde den Laden hier heute nacht dichtmachen. Ihr wisst, wo ich zu finden bin. Und nun bleibt keinen Augenblick länger, meine Lieben, fort mit euch!«
Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er die Tür hinter ihnen doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er aus dem Versteck das Kästchen hervor, welches Oliver aus Versehen zu Gesicht bekommen hatte. Dann verstaute er die Uhren und den Schmuck hastig in seinen Kleidern.
Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seiner Beschäftigung auf. »Wer ist da?«, rief er schrill.
»Ich bin’s!«, erwiderte die Stimme des Dodgers durchs Schlüsselloch.
»Was gibt’s?«, fragte Fagin unwirsch.
»Nancy will wissen, ob wir ihn in die andere Bude verschleppen soll’n«, sagte der Dodger.
»Ja«, erwiderte Fagin, »wann immer ihr ihn zu fassen kriegt. Findet ihn, schafft ihn herbei, das ist alles. Ich weiß schon, was dann zu tun ist, keine Angst.«
Der Junge murmelte, dass er verstanden habe, und eilte die Treppen hinab seinen Gefährten nach.
»Noch hat er nicht gesungen«, sagte Fagin und nahm seine vorherige Beschäftigung wieder auf. »Wenn er uns bei seinen neuen Freunden verpfeifen will, können wir ihm immer noch den Mund stopfen.«
Enthält weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Mr. Brownlow sowie die bemerkenswerte Vorhersage, die ein Mr. Grimwig in Bezug auf Oliver trifft, als dieser zu einem Botengang aufbricht.
Oliver erholte sich bald von dem Ohnmachtsanfall, den er aufgrund von Mr. Brownlows plötzlichem Ausruf erlitten hatte, und im darauffolgenden Gespräch wurde der Gegenstand des Gemäldes sowohl vom alten Herrn als auch von Mrs. Bedwin sorgsam gemieden, es ging darin auch weder um Olivers Vergangenheit noch um seine Aussichten, sondern beschränkte sich auf solche Themen, die ihn aufzuheitern vermochten, ohne ihn dabei aufzuregen. Er war noch immer zu schwach, um zum Frühstück aufzustehen, doch als er am nächsten Tag in das Zimmer der Haushälterin herunterkam, warf er als erstes einen neugierigen Blick auf die Wand, in der Hoffnung, das Gesicht der schönen Dame wiederzusehen. Seine Erwartung wurde jedoch enttäuscht, denn das Gemälde war entfernt worden.
»Na«, sagte die Haushälterin, als sie Olivers Blick bemerkte, »siehst du, es ist fort.«
»Ja, ich seh’s, Madam«, antwortete Oliver mit einem Seufzer. »Warum hat man es weggenommen?«
»Weißt du, mein Kind, es wurde abgehängt, weil Mr. Brownlow sagte, es könne, da es dich anscheinend ängstigt, deiner Genesung abträglich sein«, erwiderte die alte Dame.
»Aber nein, es hat mich keineswegs geängstigt, Madam«, sagte Oliver. »Ich habe es gern angeschaut, ich mochte es wirklich.«
»Na ja«, meinte die alte Dame gutmütig, »dann werde mal so schnell wie möglich gesund, mein Liebling, dann soll es wieder aufgehängt werden, versprochen! Aber jetzt lass uns von was anderem reden.«
Das war alles, was Oliver für den Moment über das Bild in Erfahrung bringen konnte. Da die alte Dame während seiner Krankheit so gut zu ihm gewesen war, bemühte er sich, jetzt nicht weiter über diesen Gegenstand nachzudenken, also lauschte er aufmerksam den unzähligen Geschichten, die sie ihm erzählte, von ihrer lieben und hübschen Tochter, die mit einem lieben und hübschen Mann verheiratet sei und auf dem Land lebe, und von einem Sohn, der in Westindien als Büroschreiber bei einem Handelsherrn in Stellung war, und der dazu ein solch guter Junge sei und viermal im Jahr so treusorgende Briefe nach Hause schriebe, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, als sie darüber sprach. Nachdem die alte Dame sich eine ganze Weile ausführlich über die Vorzüge ihrer Kinder verbreitet hatte, und nebenbei auch über die Verdienste ihres lieben und gütigen Gatten, der jetzt schon – Gott habe ihn selig! – vor sechsundzwanzig Jahren das Zeitliche gesegnet hatte, war es so weit, den nachmittäglichen Tee zu trinken. Danach brachte sie Oliver das Kartenspiel Cribbage bei, das er ebenso schnell begriff, wie sie es ihm erklärte. Mit diesem Spiel waren sie voller Hingabe und Ernst beschäftigt, bis es für den Kranken Zeit war, ein wenig erwärmten, mit Wasser verdünnten Wein und eine Scheibe trockenes Röstbrot zu sich zu nehmen und dann behaglich zu Bett zu gehen.
Diese Tage der Genesung waren eine glückliche Zeit für Oliver. Alles war so friedlich, so hübsch, so ordentlich, alle waren so gütig und freundlich, dass es ihm nach all dem Lärm und Trubel, in dem er stets gelebt hatte, wie der Himmel vorkam. Und kaum war er wieder bei Kräften, um sich richtig anzukleiden, ließ Mr. Brownlow auch schon einen kompletten, neuen Anzug, samt neuer Mütze und einem Paar neuer Schuhe, für ihn besorgen. Da man Oliver sagte, er könne mit seinen alten Kleidern tun, was er wolle, gab er sie einem Dienstmädchen, das sehr freundlich zu ihm gewesen war, und bat sie, diese einem Trödler zu verkaufen und das Geld für sich zu behalten. Das tat sie dann auch sogleich, und als Oliver aus dem Stubenfenster blickte und sah, wie der Trödler die Kleider in seinen Sack stopfte und fortging, fühlte er sich erleichtert bei dem Gedanken, dass sie jetzt ein für alle Mal weg waren und keine Gefahr mehr bestand, sie noch einmal tragen zu müssen. Ehrlich gesagt waren es tatsächlich schäbige Lumpen gewesen, denn Oliver hatte noch nie zuvor einen neuen Anzug bekommen.
Eines Abends, etwa eine Woche nach dem Vorfall mit dem Gemälde, als er gerade mit Mrs. Bedwin zusammensaß und plauderte, sandte Mr. Brownlow die Nachricht nach unten, dass er Oliver, sollte dieser sich entsprechend wohl fühlen, in seinem Arbeitszimmer zu sehen und sich ein wenig mit ihm zu unterhalten wünsche.
»Ach du meine Güte! Wasch dir die Hände und lass dir einen hübschen Scheitel ziehen, mein Kind«, sagte Mrs. Bedwin. »Bei meiner Seel! Hätten wir geahnt, dass er nach dir schicken lässt, hätten wir dir einen frischen Kragen umgelegt und dich wie einen Goldtaler poliert!«
Oliver tat, wie ihn die alte Dame geheißen, und obwohl sie fortwährend jammerte und klagte, dass nicht einmal Zeit sei, die kleine Krause an seinem Hemdkragen zu fälteln, sah er, ungeachtet dieses schwerwiegenden Mangels, so hübsch und fein aus, dass sie, als sie ihn mit großem Wohlgefallen von Kopf bis Fuß betrachtete, so weit ging, zu sagen, sie glaube nicht, dass es möglich gewesen wäre, ihn noch weiter zu seinem Vorteil zu verändern, selbst wenn sie alle Zeit der Welt gehabt hätten.
Derart ermutigt klopfte Oliver an die Tür des Arbeitszimmers. Auf Mr. Brownlows Aufforderung trat er in ein kleines, mit Büchern vollgestopftes Hinterzimmer, dessen Fenster auf hübsche kleine Gärten blickte. Vor diesem Fenster befand sich ein Tisch, an dem Mr. Brownlow saß und las. Als er Oliver sah, schob er das Buch beiseite und bat ihn, an den Tisch zu treten und sich zu setzen. Oliver gehorchte und fragte sich verwundert, wo man wohl so viele Menschen finden könne, um solch große Anzahl von Büchern zu lesen, die anscheinend geschrieben worden waren, um die Weisheit der Welt zu mehren. Und das fragen sich auch erfahrenere Leute als Oliver Twist jeden Tag ihres Lebens aufs neue.
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