So wird bei der Frage nach der funktionellen Austauschbarkeit nicht das zentrale Problem der Marktmacht thematisiert, die davon abhängt, wie preiselastisch die Nachfrage reagiert. Um Marktmacht zu verhindern, reicht es häufig aus, wenn nur ein relativ geringer Teil der Konsumenten bei einer Preiserhöhung auf andere Produkte ausweicht. Eine vollständige oder überwiegende funktionelle Austauschbarkeit der Produkte ist im Allgemeinen nicht erforderlich, um Marktmacht zu beschränken und führt daher zu einer zu engen Marktabgrenzung.53 In engem Zusammenhang hiermit steht das Kriterium der physischen Charakteristika, nach dem zwei Produkte unterschiedlichen Märkten zugehören sollen, wenn sie in ihren Eigenschaften erhebliche Unterschiede aufweisen. Auch dieses Kriterium führt häufig zu einer ökonomisch nicht sinnvollen Marktabgrenzung, denn um als Substitute für die Konsumenten in Frage zu kommen, müssen sie nicht notwendig die gleichen physischen Eigenschaften aufweisen. So können Busse und Bahnen trotz erheblicher Unterschiede in ihren Eigenschaften für viele Konsumenten als Substitute in Frage kommen. Eine Abgrenzung des relevanten Marktes aufgrund der Ähnlichkeit in den physischen Eigenschaften kann daher zu sehr engen Märkten führen, weil dabei u.U. Eigenschaften der Güter betrachtet werden, die für die Kaufentscheidung einiger Konsumenten keine Bedeutung haben.54 Wenn man zwei Produkte aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften verschiedenen Märkten zuordnet, sollte der Einfluss dieser Eigenschaften auf die Substituierbarkeit das entscheidende Kriterium sein. Auch eine unterschiedliche Preislage der Güter ist kein notwendiges Kriterium, sie verschiedenen Märkten zuzuordnen. Wenn sich Güter in qualitativen Eigenschaften, wie z.B. der Lebensdauer, unterscheiden, dann könnte ein qualitativ höherwertiges Gut, z.B. eines mit der doppelten Lebensdauer, ein sehr enges Substitut für ein qualitativ schlechteres sein, das nur die Hälfte kostet.55 Auch hier besteht die Gefahr einer zu engen Marktabgrenzung und dadurch zu einer Überschätzung der Marktmacht aufgrund der gemessenen Marktanteile. Zwar können alle die genannten Konzepte Hinweise darauf geben, welche Güter als Substitute in einem ökonomisch sinnvoll abgegrenzten relevanten Markt zusammengefasst werden sollten, aber die entscheidende Frage nach der Marktmacht und den Schranken, die ihr durch Substitute gesetzt werden, wird durch diese Kriterien nicht beantwortet.
b) Hypothetischer Monopolistentest
Seit Anfang der 1980er Jahre wurde von der Wirtschaftstheorie ein Konzept vorgeschlagen, das speziell zu dem Zweck entwickelt wurde, eine marktmachtbezogene Abgrenzung des relevanten Markts für die Fusionskontrolle vorzunehmen. Ein Markt sollte hiernach so abgegrenzt werden, dass die Marktanteile eine möglichst große Aussagekraft über die Fähigkeit eines oder mehrerer Unternehmen haben, Marktmacht auszuüben.56 Bei diesem Marktkonzept, das erstmals in den US-amerikanischen Leitlinien zur Beurteilung horizontaler Unternehmenszusammenschlüsse vorgestellt wurde, handelt es sich um das Konzept des Antitrustmarktes.57 Der Grundgedanke hinter diesem Konzept ist folgender: Marktanteile können nur dann ein brauchbares Indiz für Marktmacht sein, wenn zumindest ein Unternehmen mit einem Marktanteil von 100 % Marktmacht ausüben kann. Anders ausgedrückt: Wenn selbst ein Monopolist nicht über Marktmacht verfügt, den Preis also nicht über den Wettbewerbspreis anheben kann, dann haben Unternehmen mit einem geringeren Marktanteil als 100 % erst recht keine Marktmacht, d.h. keine Möglichkeit zur Preiserhöhung.58 In diesem Fall würden Marktanteile nichts über Marktmacht aussagen. Der relevante Antitrustmarkt umfasst also in sachlicher Hinsicht all die Produkte und in räumlicher Hinsicht all die Gebiete, die der Marktmacht eines Monopolisten Grenzen setzen. Würde der Markt einige dieser Produkte oder Gebiete nicht enthalten, dann würde eine Preiserhöhung Konsumenten dazu veranlassen, auf diese Produkte oder Gebiete auszuweichen und die versuchte Ausübung von Marktmacht wäre vereitelt. Diese Überlegung wurde zum hypothetischen Monopolistentest weiterentwickelt, wie er heute in zahlreichen Jurisdiktionen für Fragen der Marktabgrenzung als konzeptioneller Rahmen verwendet wird.59
Dieser Test stellt die Frage, ob ein gewinnmaximierender hypothetischer Monopolist, d.h. ein Unternehmen, das der einzige Anbieter eines Produktes ist, den Preis für dieses Produkt anheben würde.60 Wenn das der Fall wäre, dann würde dieser hypothetische Monopolist über Marktmacht verfügen und die Marktanteile der Unternehmen in diesem Markt würden einen, wenn auch nur unvollkommenen, Rückschluss auf ihre jeweilige Marktmacht erlauben. Würde die Anhebung des Preises durch den hypothetischen Monopolisten jedoch zu keiner Erhöhung des Gewinns führen, dann sind der Marktmacht des hypothetischen Monopolisten offensichtlich Schranken gesetzt. Diese Schranken können entweder durch Ausweichreaktionen der Konsumenten oder durch Angebotsreaktionen anderer Unternehmen gebildet werden. In diesem Fall würden die Marktanteile der Unternehmen in diesem Markt kein brauchbares Indiz für Marktmacht liefern. Aber nicht jedes Maß an Marktmacht ist aus ökonomischer Sicht problematisch. Erst wenn diese eine gewisse Grenze überschreitet, kann sie zum Problem werden. Es stellt sich daher die Frage, welches Maß an Marktmacht, d.h. welche Preiserhöhung und welcher Zeitraum hierfür in Betracht kommen.61 Eine sehr starke Preiserhöhung, die jedoch nur für einen Zeitraum von wenigen Wochen wirksam ist, bevor die Konsumenten auf andere Güter ausweichen oder andere Anbieter in den Markt eintreten, ist vermutlich weniger problematisch als eine moderate Preiserhöhung, die jedoch für einen Zeitraum von mehreren Jahren bestehen bleibt.62 Hier ist eine normative Entscheidung darüber zu fällen, welches Ausmaß der Preiserhöhung und welcher Zeitraum ihrer Dauer noch akzeptiert werden können, bevor wettbewerbspolitische Konsequenzen zu ziehen sind. Im Allgemeinen wird eine Grenze bei einer Preiserhöhung von 5–10 % für die Dauer ungefähr eines Jahres gezogen. Wird diese Grenze überschritten, dann entsteht Marktmacht, die nicht mehr toleriert werden kann.63 In diesem Fall ist der relevante Markt so abgegrenzt, dass die Marktanteile der Unternehmen als Indiz für ihre Marktmacht gelten können. So kann für die Abgrenzung des relevanten Marktes die folgende Bedingung formuliert werden: Ein relevanter Markt umfasst die Produkte und Gebiete, für die ein gewinnmaximierender hypothetischer Monopolist den Preis nicht nur vorübergehend um einen kleinen, aber signifikanten Betrag erhöhen wird. Dabei wird unterstellt, dass die Preise und sonstigen Verkaufsbedingungen aller anderen Güter unverändert bleiben. Es wird davon ausgegangen, dass ein gewinnmaximierendes Unternehmen den Preis um mindestens 5–10 % anheben würde. Bisweilen wird auch die Formulierung verwendet, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % profitabel sei. Der Unterschied besteht darin, dass eine Preiserhöhung um 5 % zwar noch profitabel sein könnte, aber ein gewinnmaximierendes Unternehmen den Preis nur um z.B. 3 % anheben würde. Aus ökonomischer Sicht ist der erste Test vorzuziehen, da er auf das abstellt, was das Unternehmen tun wird.64 „Nicht nur vorübergehend“ bedeutet dabei für mindestens ein Jahr und „klein aber signifikant“ heißt im Bereich von 5–10 %. Dabei sind bei verschiedenen Konstellationen Abweichungen von diesen Grenzen möglich; sie sollten nicht absolut gesehen werden, manchmal sind geringere oder höhere Grenzen sinnvoll.65 Weiterhin ist zu beachten, dass diese Grenzen nur etwas über den relevanten Markt aussagen, sie sollten daher nicht automatisch mit einer Toleranzgrenze für Preiserhöhungen nach einer Fusion gleichgesetzt werden.66 Im Englischen wird dieses Konzept der Marktabgrenzung auch als SSNIP-Test (Small but Significant Non-transitory Increase in Price) bezeichnet.67 Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang anzusprechen ist, ist die Beschränkung des SSNIP-Tests auf die Preisdimension.68 Im Prinzip lässt sich das konzeptionelle Vorgehen bei der Marktabgrenzung in analoger Weise auch auf Änderungen anderer Wettbewerbsparameter übertragen. In vielen Fällen kann die Beschränkung auf die Preisdimension jedoch als Approximation einer kleinen Änderung in einem anderen Wettbewerbsparameter als dem Preis aufgefasst werden, z.B. einer Verringerung der Qualität, die die Produkte für einen Nachfrager weniger attraktiv macht.69
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