Um festzustellen, ob in einem konkreten Fall auf eine Preiserhöhung durch einen hypothetischen Monopolisten eine Angebotssubstitution erfolgen wird, sind die hierzu notwendigen Voraussetzungen zu prüfen, d.h. das Vorhandensein von Produktionsanlagen, Know-how, Distributionssystemen, freien Kapazitäten etc. und es ist zu untersuchen, durch welche Unternehmen und in welchen Ausmaß eine solche Angebotssubstitution voraussichtlich erfolgen wird.91 Ist mit einer wirksamen Angebotssubstitution zu rechnen, dann stellt sich die Frage, auf welche Weise man sie bei der Marktabgrenzung berücksichtigen sollte. Zwei verschiedene Möglichkeiten sind denkbar. So könnten all die Produkte dem relevanten Markt zugeordnet werden, die von den Unternehmen produziert werden, die ihr Angebot umstellen bzw. umleiten würden, d.h. der relevante sachliche bzw. räumliche Markt wird erweitert.92 Zwar besteht zwischen Schuhen verschiedener Größe keine Substitutionsmöglichkeit in der Nachfrage, was dazu führen würde, dass bei einer nur auf Nachfragesubstitution abstellenden Marktabgrenzung eine Vielzahl relevanter Märkte entstehen würde, aber die meisten Unternehmen, die Schuhe herstellen, können ihre Produktion sehr schnell von einer Größe auf eine andere umstellen, sodass aufgrund einer solchen Angebotssubstitution der relevante Markt der für Schuhe ist. Ein ähnliches Vorgehen gilt auch für andere Güter, zwischen denen zwar keine Nachfragesubstitution besteht, die sich aber z.B. nur in Größe oder Farbe unterscheiden und bei denen Unternehmen schnell und problemlos ihr Angebot umstellen würden.93 Eine weitere Abgrenzung des relevanten Marktes setzt jedoch voraus, dass alle oder zumindest die meisten Unternehmen eine solche Angebotssubstitution durchführen. Ist diese Bedingung jedoch nicht erfüllt, dann sollte der relevante Markt nur im Hinblick auf die Nachfragesubstitution abgegrenzt werden, aber die Unternehmen, die Angebotssubstitute herstellen, wären als Marktteilnehmer zu betrachten und die Kapazitäten, die sie für die Umwidmung des Angebots einsetzen würden, wären bei der Berechnung der Marktanteile zu berücksichtigen. Könnten z.B. Unternehmen, die Radkappen herstellen, ihre Produktion schnell und problemlos auf Stoßstangen umstellen, wenn deren Preis steigen würde, dann wäre es nicht sinnvoll, Radkappen und Stoßstangen in einem relevanten Markt zusammenzufassen. Stattdessen würde man den relevanten Markt nur aufgrund der Nachfragesubstitution als den Markt für Stoßstangen abgrenzen, aber bei der Berechnung der Marktanteile wären die Kapazitäten der Radkappenhersteller, die sie für die Produktion von Stoßstangen einsetzen würden, zu berücksichtigen.94 Im Allgemeinen sollten beide Methoden zum gleichen oder zumindest zu ähnlichen Resultaten bezüglich der Marktanteile der Unternehmen führen.95
Eine Berücksichtigung der Angebotssubstitution entweder bei der Abgrenzung des relevanten Marktes oder bei der Berechnung der Marktanteile setzt jedoch voraus, dass quantitative Aussagen über die Angebotssubstitution möglich sind. Dies wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle jedoch sehr schwierig oder unmöglich sein, denn es muss festgestellt werden, welche Unternehmen als potentielle Anbieter eines Substitutes in Frage kämen. Hierzu sind jedoch Kenntnisse über ihre Technologie, ihr Know-how etc. notwendig, die meist nicht zur Verfügung stehen.96 Eine quantitative Erfassung der Angebotssubstitution entweder bei der Abgrenzung des relevanten Marktes oder bei der Berechnung der Marktanteile wird also häufig nicht möglich sein. Stattdessen ist in solchen Fällen auch die Angebotssubstitution, ähnlich wie der Markteintritt, erst bei der Beurteilung des Wettbewerbs nach der Abgrenzung des relevanten Marktes zu berücksichtigen.97 Wichtig ist dabei, dass die Marktanteile, deren Berechnung ja ohne Ermittlung der Angebotssubstitution erfolgt ist, die Marktmacht der Unternehmen tendenziell überschätzen. Sie sollten daher vorsichtig interpretiert werden.98
γ) Simultane sachliche und räumliche Marktabgrenzung
Bezüglich der Abgrenzung des relevanten Marktes in sachlicher bzw. räumlicher Hinsicht ist zu beachten, dass eine sequentielle Abgrenzung erst des sachlich und danach des räumlich relevanten Marktes zu Marktanteilen führen kann, die kein gutes Indiz für die Marktmacht eines Unternehmens sind, da sie die Marktmacht überschätzen. Grenzt man den relevanten Markt erst in sachlicher Hinsicht ab, dann betrachtet man Ausweichreaktionen der Nachfrager nur bezüglich anderer Produkte. Diese sind für sich allein genommen u.U. nicht ausreichend, um eine profitable Preiserhöhung zu verhindern. Man hat also einen engen sachlich relevanten Markt abgegrenzt. Wird dann in einem zweiten Schritt eine räumliche Marktabgrenzung vorgenommen, dann können die Ausweichreaktionen der Nachfrager auf andere Gebiete, ebenfalls für sich allein genommen, auch nicht ausreichend sein, eine Preiserhöhung zu verhindern. Der räumlich relevante Markt ist also ebenfalls eng abgegrenzt. Hätte man aber simultane Abgrenzung in sachlicher und räumlicher Hinsicht vorgenommen, dann wären beide Ausweichreaktionen zusammen unter Umständen ausreichend gewesen, eine Preiserhöhung unprofitabel zu machen, und der Markt wäre weiter abzugrenzen.99 Die unterschiedlichen Ergebnisse hängen vor allem davon ab, ob die Konsumenten, die auf andere Produkte ausweichen, verschieden von denen sind, die ihre Nachfrage auf andere Gebiete verlagern.100 Eine Analyse des europäischen Marktes für Lachs hat gezeigt, dass eine sequentielle Abgrenzung des relevanten sachlichen und räumlichen Marktes – im Unterschied zu einer simultanen Marktabgrenzung – zu sehr engen sachlichen und räumlichen Märkten führt, da bei einem sequentiellen Vorgehen die „Quersubstitution“ unberücksichtigt bleibt. Diese wird jedoch bei einer simultanen Abgrenzung des sachlichen und räumlichen Marktes berücksichtigt, sodass ein größerer relevanter Markt resultiert.
δ) Marktabgrenzung bei differenzierten Gütern
Ein weiteres konzeptionelles Problem stellt sich bei der Abgrenzung von Märkten mit differenzierten Gütern. Im Allgemeinen werden für ein bestimmtes Gut nicht alle differenzierten Güter in gleicher Weise als Substitute in Frage kommen, sondern es wird in vielen Fällen engere und weitere Substitute geben. Wenn dies der Fall ist, dann haben die Marktanteile von Unternehmen, die entferntere Substitute herstellen, ein anderes Gewicht als die von Unternehmen, die für ein gegebenes Produkt sehr enge Substitute herstellen. Gerade in Fusionsfällen kann dies jedoch problematisch sein, denn wenn die Hersteller von zwei engen Substituten fusionieren, kann die Auswirkung der Fusion auf den Wettbewerb erheblich sein, während bei der Fusion von Unternehmen, die zwar Produkte herstellen, die im gleichen relevanten Markt sind, aber nur entfernte Substitute bilden, selbst bei gleichen Marktanteilen keine großen Konsequenzen für den Wettbewerb haben.101 Das grundlegende Problem bei der Abgrenzung eines relevanten Marktes mit differenzierten Gütern besteht darin, dass Produkte entweder zum relevanten Markt gehören oder nicht. Anders ausgedrückt, durch dieses „binäre“ Vorgehen wird unterstellt, dass alle Produkte im relevanten Markt vollkommene Substitute sind, während zu den Produkten außerhalb des relevanten Marktes keinerlei Substitutionsbeziehung besteht. Dadurch wird der Einfluss von Produkten im relevanten Markt überschätzt und der von Produkten außerhalb des relevanten Marktes unterschätzt. Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes wird der Wettbewerbsdruck, den ein Produkt auf die anderen ausübt, durch den Marktanteil erfasst und nicht durch die Intensität des Wettbewerbs.102
Wie eng die Substitutionsbeziehung zwischen zwei Produkten 1 und 2 und wie intensiv infolgedessen der Wettbewerb zwischen diesen beiden Produkten ist, kann mithilfe der Umlenkungskennziffer beschrieben werden.103 Da die Anteile in einem Markt mit differenzierten Gütern die erste Präferenz der Konsumenten bezüglich der Güter in diesem Markt widerspiegeln, gibt der Marktanteil von Produkt 1 den Anteil der Verbraucher an, die das Produkt 1 gegenüber allen anderen Produkten auf dem relevanten Markt bevorzugen. Die Umlenkungskennziffer in Bezug auf das Produkt 2 gibt an, wie viele Verbraucher bei einer Erhöhung des Preises von Produkt 1 zu Produkt 2 wechseln würden. Dies sind die Verbraucher, die das Produkt 2 als zweite Präferenz haben. Eine Umlenkungskennziffer von 33 % in Bezug auf Produkt 2 bedeutet zum Beispiel, dass ein Drittel des durch die Preiserhöhung eingebüßten Umsatzes von Produkt 1 auf das Produkt B umgelenkt wird. Je höher das Umlenkungskennziffer, desto intensiver ist der Wettbewerb zwischen den beiden Produkten. Marktanteile in einem Markt mit differenzierten Produkten sind daher nur insoweit ein Indikator für die Enge der Substitutionsbeziehung bzw. die Wettbewerbsintensität, als sie proportional zur Umlenkungskennziffer sind. Dies gilt jedoch nur dann, wenn alle Produkte auf dem relevanten Markt „gleichmäßig differenziert“ sind, d.h., dass der „Abstand“ der Produkte voneinander der gleiche ist.104 Dies dürfte jedoch in den meisten Märkten nicht gegeben sein, sondern ein relevanter Markt wird engere und weitere Substitute umfassen, d.h. Produkte, die mit unterschiedlicher Intensität miteinander im Wettbewerb stehen und die nicht mit den Marktanteilen korreliert sind. Infolgedessen werden die Auswirkungen einer Fusion vor allem von der Enge der Substitutionsbeziehung zwischen den Produkten der fusionierenden Unternehmen und weniger von ihren jeweiligen Marktanteilen abhängen.
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