Vor wenigen Tagen hatte er einen Anruf erhalten. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade noch in Texas auf einer der größten Militärstützpunkte Amerikas gewesen um dort einen Millionärssohn zu beschützen, der leichtsinnigerweise geglaubt hatte, sich mit ein paar verfeindeten Drogenkartellen anlegen zu können. Gestern hatte er seine Aussage vor dem Hamburger Strafgericht gemacht und war daraufhin in die Obhut seiner Familie entlassen worden. Er glaubte zwar nicht, dass er dort lange überleben würde, aber gegen den Wunsch eines ziemlich einflussreichen Multimillionärs wollte sich auch die Staatsanwaltschaft nicht anlegen und im Grunde konnte es ihnen auch egal sein.
Thomas Johnson spürte den Druck seiner Waffe am rechten Oberschenkel als er die Treppe hinauflief.
Er war niemand, der vor etwas Angst hatte. Er war ein ausgebildeter Polizeikommissar und Personenschützer, besaß eine mehrjährige Erfahrung als Undercoveragent, hatte beinahe drei Jahre lang bei der deutschen Luftwaffe gedient und mehr als nur einmal dem Tod ins Gesicht gesehen. Er wusste was es bedeutete, Menschen sterben zu sehen. Ihre letzten Schreie die in der Ferne verklangen bevor sie zu Boden gingen. Genauso wie er wusste, wie es sich anfühlte, dafür verantwortlich zu sein. Das Leben hatte ihn zu dem gemacht der er jetzt war. Einem Mann, der tötete wenn es sein musste und beschützte, sofern es geboten war. Aber gegen diese erdrückende Last seiner Vergangenheit kam er einfach nicht an.
Seit Jahren hatte er versucht, so wenig wie möglich an sich heranzulassen. Er war 32 Jahre alt und einer der besten Agenten in seinem Beruf. Aber ein Privatleben gab es nicht. Nicht mehr.
Nicht seit jener verhängnisvollen Nacht, die sein ehemaliges Leben ein weiteres Mal zerstört hatte.
Er musste endlich damit abschließen. Das alles war vorbei. Doch mit jedem Schritt den er weiter in dem Polizeirevier ging, rückte dieses Leben wieder näher. Er würde diesen Auftrag durchziehen. Er war ein Profi. Er hatte nicht den leisesten Schimmer ob er dafür bereit war, aber er wusste, dass er vor der Vergangenheit nicht ewig davonlaufen konnte. Egal wie weit er gereist war oder wie tief er in einem Auftrag gesteckt hatte, sie war immer da gewesen. Hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt.
Irgendwann in den letzten Jahren hatte er die Kontrolle verloren. Und wenn er diese nicht bald wieder fand, würde er einen Fehler machen. Einen, der vermutlich tödlich endete.
Er verspürte den Drang nach einer Zigarette.
Reflexartig griff er in seine linke Hosentasche, doch dort befand sich nichts außer einem zerknüllten Taschentuch und einer Zwei-Euro-Münze. Schließlich hatte er vor ein paar Wochen auch beschlossen mit dem Rauchen aufzuhören. Kein Wunder also, dass er keine Schachtel dieses ohnehin viel zu ungesunden Tabaks bei sich trug.
Er brauchte frische Luft. Entschlossen öffnete er daher die nächste Tür und trat ins Freie. Ein heißer Windstoß streichelte seinen Körper, der Asphalt war staubtrocken und es roch verführerisch nach der spätsommerlichen Luft Anfang September.
Er lehnte sich über ein altes, schon ziemlich verrostetes Treppengeländer und blickte zwischen einer Reihe Häuserblocks hindurch.
Keine Wolke verdrängte die Sonne und trübte die schwüle Atmosphäre dieser Stadt. Dutzende von Wolkenkratzern ragten in den Himmel hervor, Fabriken und Wohnhäuser reihten sich an den Straßen entlang bis man sie nur noch als kleine graue oder weiße Punkte wahrnehmen konnte.
Dort war er geboren und aufgewachsen. Jene Gebäude waren ein Teil seines ganzen Lebens gewesen, genauso wie diese Stadt.
Hamburg , die zweitgrößte Stadt Deutschlands, die siebte in der Europäischen Union, 1,8 Millionen Bürger die nur ein winziger Bruchteil von all dem war, was zu ihr gehörte. Er hatte schon so viele Länder bereist, dass er sich kaum noch an alle erinnern konnte. Alle waren auf ihre eigene Art und Weise faszinierend und aufregend gewesen, dennoch fühlte er sich hier in seiner Heimatstadt am wohlsten. Auch wenn er sich manchmal wünschte, so weit weg wie möglich zu sein. Dieser Drang jedoch beruhte mehr auf gewisse Erinnerungen, als an der Stadt selbst. Unwillkürlich musste er wieder an seinen Vater denken. Seit Jahren versuchte er ihm aus dem Weg zu gehen, doch seine Gegenwart war stets so präsent gewesen, dass es einfach nie ganz möglich gewesen war.
Mit der linken Hand fuhr er sich durch das wirre dunkle Haar. Sein Leben war kompliziert. Aber das würde es immer bleiben, wenn er daran nichts veränderte. Das Problem war nur, dass er das eigentlich gar nicht wollte.
Bislang hatte es nämlich ganz gut funktioniert. Das hatte er zumindest geglaubt. Er war ein Mann. Was brauchte er schon groß? Er hatte seine Arbeit, welche ihn mehr als genug beanspruchte, hin und wieder ein paar belanglose Affären und wenn er doch einmal länger als zwei Tage am Stück zu Hause war besaß er eine durchaus passable Mansardenwohnung in der Innenstadt. Ein rundum zufriedenstellendes Dasein. Wäre da eben nur nicht seine Vergangenheit, die er so konsequent verdrängte. Tja, damit würde er entweder weiterhin umgehen oder sich endlich damit auseinandersetzen müssen. Allerdings war er auf diesem Gebiet dann doch wohl eher ein Feigling.
Eine Veränderung würde gleichzeitig seine Vergangenheit aufrollen und das war etwas, dass er bislang tunlichst vermieden hatte. Manchmal war es eben besser, gewisse Dinge in den tiefen Untergründen zu lassen, in denen sie sich verborgen hatten.
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, versuchte sich daran zu erinnern, dass das alles hinter ihm lag und das sein früheres Leben keine Rolle mehr spielte. Aber manchmal, da war ihm dieses so nah, dass er nicht mehr wusste, ob es der Wahrheit entsprach. Er sollte das tun, wofür er ausgebildet wurde. Nicht jeder war dafür gemacht, das Leben zu führen, für welches er sich entschieden hatte. Überall auf dem Land gab es Menschen, die seine Hilfe benötigten. Er war ständig unterwegs, verbrachte die meiste Zeit in billigen Motelzimmern oder bei fremden Leuten, immer mit der dunklen Gewissheit, dass hinter jeder Ecke jemand lauern könnte, der es auf sein oder das Leben dessen abgesehen hatte, den er beschützen sollte.
Bald würde der Tag kommen, der eine Entscheidung von ihm abverlangte. Der Tag, der sein jetziges Leben erneut über den Haufen warf und in wenigen Tagen einem Neuen eindrang bieten würde, von dem er nur hoffen konnte, dass er dafür bereit war.
Er stand noch ein paar Minuten einfach so da, sah in die Ferne und versuchte, den kurzen Moment der Stille zu genießen. In seinem Beruf gab es nicht viele solcher Augenblicke. Und auch jetzt würde es nicht mehr lange dauern, da musste er schon wieder bei seinem nächsten Auftrag sein.
Langsam stützte er seine Hände auf das Geländer, dann drehte er sich um. Sein Körper schmerzte noch ein wenig von seinem letzten Einsatz. Vor allem sein linkes Bein bereitete ihm Probleme. Vor ein paar Tagen hatte sein Knie einen erheblichen Schlag abgekommen. Ein paar seiner Rippenknochen waren geprellt und an seinen Armen prangerten ein paar ziemlich übliche blaue Flecke. Alles Dinge, die wieder verheilten. Er hatte schon Schlimmeres wegstecken müssen.
Tom trat zwei große Schritte nach vorn, zog die Tür des Präsidiums wieder auf und lief direkt in Richtung des Büros des leitenden Beamten des Zeugenschutzprogramms.
Hier war er nun, in der Hoffnung, bereit dafür zu sein, sich seiner nächsten Aufgabe zu stellen, die vermutlich die Schwierigste seines Lebens sein würde.
Mit einem lauten Knall flog das Tablett mit fein säuberlich darauf gestellten Tassen und Tellern zu Boden. Hannah Christensen stolperte hinterher und wäre beinahe in dieses Scherbenmeer geflogen. »Verfluchter Mist!« Sie fing sich gerade noch rechtzeitig am Rand des Tresens und starrte dann stöhnend auf den Haufen kaputten Geschirrs vor ihr.
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