Am nächsten Morgen stand das Mädchen, das San Youn am Vorabend beobachtet hatte, wie jeden Tag mit den Kindern in dem sich langsam hebenden Frühnebel auf. Ihr Gesicht war blass und unbewegt. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum gewesen, belog sich San Youn. Sie erinnerte sich an ihren eigenen schlimmen Traum der letzten Nacht. Ihre Mutter hatte mit Thanaka überall Gewehre an die Wände der Hütte gemalt, dann kamen Maden aus den Wänden. San Youn hatte sich nicht zu weinen getraut, als sie aufgewacht war. Mi Mi hatte gesagt, wenn man Opium rauche, bekäme man Albträume. Auch San Youn war schon einmal eine Pfeife angeboten worden. Sie hatte vorsichtig so getan, als ob sie es inhalierte, aber darauf geachtet, den komisch schmeckenden Rauch nicht in die Lunge zu ziehen. Sie hatte ihn im Mund behalten und dann langsam ausgeblasen. So war es keinem aufgefallen, dass sie nicht echt geraucht hatte. Trotzdem war ihr schwindelig und komisch geworden. Seither war es ihr gelungen, sich an der Pfeife oder den Schlafmohnzigaretten vorbeizudrücken. Genauso machte sie es jetzt auch mit den seltsamen Tabletten, die sie immer heimlich ausspuckte. San Youn hatte Angst, man könne ihren Betrug erkennen. Hier rauchten alle und alle nahmen diese Pillen. Vielleicht waren deshalb die Menschen hier so eigenartig. Sie sagten, dass es gut sei. Es mache sie ruhig und mutig. Es helfe zu schlafen nach der anstrengenden Arbeit und es helfe gegen Angst.
San Youn wollte gern, dass auch ihre Angst aufhörte. Aber Mi Mi wäre dann böse. Sie hatte gesagt, wirklich Erwachsene würden nicht rauchen, weil sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue. Denn Erwachsensein bedeute, dass man Verantwortung für das Leben übernähme. Vielleicht käme Mi Mi ja doch zurück und holte sie nach Hause. Vielleicht hatte ihr Geist nur für kurze Zeit ihren Körper verlassen. San Youn hatte furchtbares Heimweh. Das Rauchen würde auch gegen Heimweh helfen, sagte man ihr. Niemand hier hatte mehr Heimweh. San Youn fragte den Elefanten auf ihrer Brust, denn er würde alles sehen, was sie tat, und würde es der Mutter sagen. Vielleicht war der Geist der Mutter selbst da drin, in dem Stein, und beobachtete sie.
Der Elefant sagte, sie solle nicht rauchen. Denn dadurch würde sie ihre Seele verlieren. Auch wenn die Seele jetzt wehtat – ihr Heimweh und ihre Angst zeigten ihr, dass sie noch lebte. Das war eine Antwort, die nur Mi Mi gegeben hätte. Sie musste wirklich in dem Stein sein.
Obwohl die Soldaten Gewehre hatten und schossen, obwohl Mi Mi sagte, das würde die Seele kaputtmachen, hatten die Soldaten Stärke. Je älter sie wurden, desto stärker wurden sie, denn hier war man jemand. Hier war man wichtig und bekam eine Aufgabe. Die Leute hier sagten, dass es ihrem Leben einen Sinn gäbe. Sie wären nicht mehr nur hilflose Opfer. Sie würden das Land befreien und dann wäre endlich Frieden. Mi Mi hätte etwas anderes gesagt. Dass Frieden so nicht geht. Dass Frieden kein Ziel ist, sondern ein Weg. Hier sagte man, dass durch stilles Leiden kein Frieden käme. Sie sagten, dass es nicht friedlicher wäre, nur weil Mi Mi jetzt tot war. Zumindest damit hatten sie Recht. Die Tatmadaw hatten Mi Mi und Aung Ni getötet und vielleicht auch das ganze Dorf. Und sie würden weitermachen. San Youn wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht gab es einen Kompromiss. Oder sie würde abwarten, was noch geschehen würde. Die Zeit würde ihr so manche Antwort geben. Also funktionierte sie einfach, gehorchte, tat, was man ihr sagte und wenn sie bestraft wurde oder gelobt, ließ sie es über sich ergehen. Sie folgte und gehorchte wie ein Zombie. Wenigstens musste sie niemanden töten, noch war ihr Gewehr aus Holz. Auch eine Uniform bekam sie noch nicht, sie trug nur ein graues Hemd und eine braune Hose. Ein bisschen freute sie sich auf die Uniform, denn die machte stark. Dann wäre alles leichter. Sie machte ihre Übungen und tat nur, was man ihr sagte. Wenn sie keinen Befehl bekam, stand oder saß oder lag sie stumm da und wartete.
Nach unzähligen Tagen wurde San Youn einer kleineren Gruppe zugeteilt. Die Gruppe ging in einer Reihe hintereinander durch den Wald. Vorne ein paar Kinder, hinten die Erwachsenen. Ganz vorne tasteten sich mit einem Stock das Mädchen, das in dem Zelt gewesen war, und die Soldatin, die San Youn bei ihrer Ankunft das Essen gegeben hatte, voran. Diese Frau war wie die anderen sehr streng und redete nicht, außer den Sachen, die zu sagen waren. Auch sie ging hin und wieder in das Zelt des Kommandanten. San Youn beneidete das Mädchen, das vorn bei ihr sein durfte. Die Frau war sehr stark und sicher auch sehr klug. Sie könnte San Youn vielleicht zeigen, was sie tun sollte, könnte ihr helfen und sie beschützen. Ihre Haltung war gerade, aber ihre recht großen Augen wichen jedem aus. Manchmal aß sie nicht alles auf, dann gab sie ihr Essen den Kindern. San Youn hatte auch schon einmal was von ihr bekommen. Wann durfte sie endlich auch vorne gehen, damit sie bei dieser Frau sein konnte?
Die Gruppe kam in ein Waldstück, wo die Bäume nicht so dicht standen und es nur wenig Gesträuch gab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig voran, hielten die Gewehre bereit, spähten, lauschten. Zwischendurch stoppten sie und erst auf ein Winken des Anführers gingen die Frau und das Mädchen vorne langsam weiter. Bis auf das Zirpen im Wald und das entfernte Rufen einiger Affen war nichts zu hören. Dann ein leises »Klick«. Die Frau blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Nach der ersten Schrecksekunde schmolzen ihre verschlossenen Gesichtszüge. Sie schrie dem kleinen Mädchen vor ihr etwas zu, das erschrocken zur Gruppe zurückrannte.
»Mine! Zurück!«, rief nun auch ihr Anführer laut. Die Gruppe sprang ängstlich zurück, während die Frau vorn zu weinen begann. Sie war auf eine Tretmine getreten. Das klickende Geräusch hatte sie gehört, noch bevor sie den Fuß wieder anhob, um weiterzugehen. Geistesgegenwärtig behielt sie ihren Fuß auf der Mine und verhinderte damit die sofortige Explosion.
Einer der Männer legte das Gewehr auf die Frau an und schaute den Anführer fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Wir gehen da lang.« Der Soldat, der sein Gewehr immer noch im Anschlag hielt, sagte leise: »Sie wird sowieso …« Der Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz. Er nickte: »Na gut.«
Der Schuss fiel, die Frau brach zusammen und im selben Moment krachte es laut und die Mine explodierte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ein Pfeifen hallte noch lange in San Youns Kopf nach. Noch hartnäckiger brannte sich das Bild des zerrissenen Körpers in ihr Gehirn und das Bild, wie die Gruppe einfach weiterging, an der Toten vorbei, sie selbst als erste voran. Denn San Youn war es jetzt, die das Kommando bekam, zusammen mit dem anderen Mädchen vorweg zu gehen und eventuelle Tretminen mit ihren Füßen aufzuspüren oder den ersten Angriffspunkt für Schlangen darzustellen. Denn nun konnte man auf sie am ehesten verzichten. Das war also das Privileg, vorneweg zu gehen.
Sie pirschten weiter, ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwann kehrten sie zum Lager zurück, ohne dass San Youn erfuhr, was genau der Ausflug sollte. Von der Frau wurde nicht mehr gesprochen. Noch wochenlang kam der Geist der Toten San Youn in ihren Träumen besuchen. Sie verlangte ihren Körper zurück, verlangte nach ihrem Bein, nach ihrem Fuß. Auch der abgerissene Fuß kam San Youn besuchen. Tagsüber hatte sie immer wieder den Eindruck, überall Füße zu sehen. In Bäumen, unter Büschen, im Feuer.
Mit dem einsetzenden Regen gaben die Geister plötzlich Ruhe. Hoch über dem Wald ballten sich die undurchdringlich wirkenden Wolken zusammen, der Monsun brach mit heftigen Gewittern das windstille Schweigen der Hitze und brachte in Strömen sein lebenspendendes Geschenk. Nun würde es fast jeden Tag regnen. Der Regen rauschte in den Blättern hoch über San Youn. Er begoss die Köpfe und durchtränkte die Kleidung. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Blitze zogen durch den Himmel und krachend schlug der Donner in San Youns Seele, gefolgt von tiefem Grollen. Normalerweise war der Beginn der Regenzeit ein Fest im Dorf, denn der Regen brachte neue Lebensgeister, machte das Land fruchtbar. Die Luftfeuchtigkeit stieg noch mehr und nach jedem Regenguss stieg der Nebel dampfend und dicht zwischen den Bäumen empor. Hier wurde kaum darauf geachtet. Es wurden lediglich zusätzliche Zelte gebaut.
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