Zu Hause kochte Lea sich eine Riesenportion Nudeln. Während sie die Tomaten schnitt und im Hintergrund Mercedes Sosas voluminöse Stimme sang, grinste sie immer noch zufrieden. Nein, das war doch sinnlos. Sie sollte sich das ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Als sie den Knoblauch hackte, dachte sie an das Lächeln dieser Frau. Sie war vielleicht unsicher, darunter allerdings schimmerte eine enorme Stärke durch. Und Verletzlichkeit. Vielleicht auch Verletztheit. Das Basilikum ließ traurig die Blätter hängen. Wo sie wohl herkam? Nein, Quatsch, das war doch völlig egal. Außerdem war sie wahrscheinlich mit diesem blöden Typen zusammen. Okay, er hatte Lea nichts getan. Vielleicht war er ja gar nicht blöd. Wenigstens hatte sie noch gefrorene Kräuter im Tiefkühlfach. Möglicherweise war sie ja auch verheiratet und hatte tausend Kinder. Ach Scheiße. Das Olivenöl breitete sich langsam in der Pfanne aus. Was wohl die Muttersprache der schönen Fremden war? Lea dünstete den Knoblauch und die Tomaten kurz an und mischte die Kräuter unter. Als sie aß, saß die Frau mit ihr am Tisch, Lea sah ihren unergründlichen Blick, hörte ihre warme Stimme und suchte nach Antworten.
Es wurde Montag. Leas Herz begann zu hämmern, als sie auf das Haus Starrenberg zuging. Hoffentlich war er nicht da. Hoffentlich war sie da. Herr Starrenberg war ihr irgendwie unangenehm. Lea warf ganz langsam den ersten Brief in den Kasten an der Haustür. Irgendeine Werbung. Sie ließ den Briefkastendeckel geräuschvoll zufallen, bevor sie gemächlich in den Wagen griff und nachschaute, wo denn nur der zweite Brief und der andere Werbemüll war, der in diesen Kasten gehörte. Heute war es viel. Natürlich hatte sie das sofort überprüft, als sie den Postberg sortiert hatte. Sie hatte sogar noch einen Bonus an Werbematerial dazugegeben.
Endlich regte sich was am Fenster. Die Gardine wurde zurückgeschoben und das Gesicht der bezaubernden Fremden erschien. Sie lächelte und winkte. In ihrem Blick lag Wehmut. Lea schmolz förmlich dahin und musste aufpassen, dass sie nicht eine Pfütze vor der Haustür bildete, einen kleinen See aus Entzücken. Warum kam die Frau nicht heraus, warum nahm sie die Post nicht persönlich entgegen, wenn sie schon zum Fenster kam? Wie auch immer, ihr Lächeln war einfach mehr als Gold wert. Auch am folgenden Tag winkten sie sich nur durch das Fenster zu und am nächsten und am übernächsten auch. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, naja, einen halben Meter oder doch eher einen ganzen. Jedenfalls viel zu weit. Und immer war da diese Glasscheibe zwischen ihnen.
Lea hielt es einfach nicht aus. Entgegen aller Vernunft schrieb sie eine neue Postkarte: »Sie sind für mich wie eine Gazelle in der Nacht: schön, flüchtig – geheimnisvoll. Doch auch das Bild auf dieser Karte passt zu Ihnen: sanft, aber zugleich stark, wie jemand, der nicht vergessen kann.« Auf der Karte war ein Elefant.
Vor dem Haus klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Ihr Herz klapperte mindestens genauso laut. Als das Gesicht erschien und die Frau ihr winkte, hielt Lea die Karte ans Fenster. Die Augen der Frau senkten sich auf das Bild, sie wirkte erst erschrocken, dann erfreut. Sie verschwand. Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür. Leas Herz machte einen Sprung. Die Frau stand im Türrahmen und begrüßte sie mit leiser Stimme. »Guten Tag … Was ist das?«
Lea hielt ihr die Karte entgegen. »Ein Elefant«, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Warum gab sie so eine blöde Antwort, die Frau war ja nicht blind!
»Was?«
»Äh, Elefant. Wir nennen das Elefant. Naja, das wissen Sie sicher schon.« Lea atmete durch, gerade noch gerettet.
Die Frau betrachtete die Karte in Leas Hand. Dann öffnete sie ihre dunkelbraune Strickjacke, die sie bisher fest um sich geschlungen hatte, und gab damit ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés frei. Ein leiser Duft ging von dieser Frau aus, kaum greifbar. Geheimnisvoll und weich. Ein Duft, der viele Geschichten in sich barg. Lea schluckte. Ihr Blick glitt den zarten, sehnigen Hals herunter, die Wollränder der Jacke entlang, über die Schlüsselbeine und die Schnüre eines Lederbandes bis zur Brust der Fremden. Dort hing ein kleiner graugrüner Stein, unbehauen und ungeschliffen.
»Elefant«, sagte die Frau und versuchte damit, das Wort auf Deutsch zu wiederholen. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, klang wie ein Stück losgelöste Borke im Herbst. Wie rauer Samt, wie ein Ausschnitt eines großen Tuches, unter dem sich Dinge verbargen. Lea schaute etwas genauer hin und versuchte, sich nicht von der warmen Haut der Frau ablenken zu lassen. Der Stein sah tatsächlich wie ein Elefant aus. Die Frau lächelte, aber ihr Lächeln schien aus einer tiefen Trauer zu kommen.
Lea schaute in das wehmütige Gesicht. »Woher ist dieser Elefant?«
Die Frau legte ihre Hand auf den Elefanten. »Elefant aus … Asien. Aus Birma. Ist Geschenk. Zum Schutz vor Tod.«
»Und? Hat er Sie beschützt?«
Die Frau nickte verhalten. »Ich habe Mann kennengelernt. Guter Mann.«
Lea rutschte das Herz in die Hose. Sie schluckte. War ja klar.
Die Stimme der Frau klang nun wie aus weiter Ferne. »Hier Arbeit. Gute Arbeit. Das gut.«
Lea lächelte gezwungen. »Das freut mich.« Sie ließ die Postkarte in ihrer Hand sinken. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sollte sie ihr nicht mehr geben. Wie konnte sie nur so blöd sein!
Die Frau schaute zu der Karte herunter. »Karte für mich?«
Lea heftete ihren Blick an die Hauswand, als sie log. »Nein, nein, die ist für jemand anderen. Ich fand das Bild so schön. Ich wollte es ihnen nur zeigen. Ich … mag Elefanten.«
»Schön, ja.« Die Frau nickte. »Elefanten gut. Hier keine Elefanten. Hier komische Kühe.«
Lea lächelte gequält. »Ja, hier komische Kühe«, und in Gedanken ergänzte sie, ich zum Beispiel. »Ich muss jetzt weiter. Tschüss.« Lea drehte sich um und ging. Im Gehen steckte sie die Karte wieder ein und ging wie auf Glatteis ihren Botengang beenden.
Südost Birma, Ende Mai 1996
Als San Youn erwachte, lag sie auf einer Bastmatte im Wald. Das Blätterdach war hier dünner als da, wo ihr Versteck war. Einige Bäume waren kahl. Das Dorf war verschwunden. Dafür roch es nach Feuer und gegrilltem Fleisch. San Youn schrak hoch, sah fremde Menschen. Sie trugen Uniformen. Schnell legte sie sich wieder hin und stellte sich schlafend. Schritte näherten sich. »Wach auf«, sagte eine Stimme über ihr, jemand schüttelte sie, dann bekam sie ein paar Ohrfeigen. Langsam und widerstrebend öffnete sie die Augen. Eine junge Frau in einer Soldatenuniform saß neben ihr und hielt sie an den Schultern. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das ihr spröde wie Stroh vom Kopf abstand. »Setz dich auf, iss was.« Sie half San Youn, sich aufzurichten. Dann reichte sie ihr eine kleine Schale mit Reis. »Iss.« San Youn hatte schrecklichen Hunger. So Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und kaum etwas aufnehmen wollte. Außerdem war ihr übel vor Angst. Trotzdem gehorchte sie und zwang sich zu essen. Langsam rollte sie den Reis zu Bällchen und schob ihn sich in kleinen Häppchen in den Mund. »Da«, sagte die Frau und gab ihr einen gegrillten Frosch. »Du musst zu Kräften kommen.« San Youn nahm das Holzstäbchen, auf dem der Frosch steckte, und nagte vorsichtig Stück für Stück das Fleisch herunter.
Ängstlich schaute sie sich um. Die Schlafstelle, auf der sie lag, bestand aus zwei nebeneinanderliegenden langen Baumstämmen, über die dicke Zweige gelegt waren, sodass sie etwas erhöht über der Erde lag. Da waren Zelte und Leute saßen um ein Feuer. Sie aßen ebenfalls. Es waren Erwachsene und auch Kinder. Viele trugen Uniformen und Gürtel, an denen Handgranaten hingen und fast alle hatten ein Gewehr auf dem Rücken. Auch die Kinder. San Youn erschrak. Ob sie jetzt auch schießen musste? Die Mutter hatte es ihr doch verboten. San Youn fragte sich, ob Nu Kaung und San Kyi auch da waren und suchte zwischen den fremden Rücken und Gesichtern ihre Schwestern. Doch es gab niemanden, den sie kannte. Sie spähte nach den Kennzeichen auf den Uniformen – wenigstens waren es die Soldaten der Karen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war sie jetzt gerettet, vielleicht würden die Soldaten sie nach Europa bringen. San Youn schaute auf ihren Reis. Ohne Mi Mi wollte sie nicht nach Europa. Wieder wollten Tränen in ihr aufsteigen, blieben aber in einem Kloß in der Kehle stecken. Niemand beachtete sie. Ob sie weglaufen sollte? San Youn rollte nervös den Reis zwischen ihren Fingern und schluckte trocken.
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