Als die Feluke sich ganz sanft senkte, drückte er ab, gerade in dem Augenblick, als Uluchs Hand mit der Lunte nach unten zuckte, um sie auf das Zündkraut zu drücken.
Der Schuß löste sich, der Rückstoß ließ Dans Brustkasten erbeben.
Mit atemloser Spannung sahen sie, wie Uluch Ali die Lunte aus der Hand glitt, wie er hochtorkelte, einen Lidschlag lang wie unentschlossen dastand und dann ganz langsam umfiel. Noch im Sturz breitete er die Arme aus, aber dann blieben sie wie festgenagelt am Körper hängen, und er schlug schwer auf die Planken.
„Ar-we-nack, Ar-we-nack!“ brüllte Shane so laut, daß die anderen unwillkürlich zusammenzuckte. Aber dann rissen sie alle die Arme hoch, und der alte Schlachtruf der Seewölfe dröhnte über das Wasser, so laut und so gefährlich und kampfeslustig, daß es den Kerlen da drüben vor Angst fast die Stiefel auszog.
Hasard blickte ungläubig zu der nur noch ganz langsam segelnden Feluke hinüber. Dort war jetzt augenblicklich die Hölle los. Die Kerle rannten kopflos durcheinander und schrien sich die Kehlen heiser.
Er wußte nicht, ob Uluch Ali tot oder nur verletzt war, aber es hatte den Anschein, als hätte ihn der Schuß nur am Schädel gestreift.
Jedenfalls änderte sich schlagartig die Szene da drüben, denn mit Uluch Alis Ausscheiden aus dem Kampf ging da drüben eine ganz erstaunliche, aber typische Wandlung vor. Die Kerle hatten die Hosen gestrichen voll, sie waren bedient, und jetzt handelten sie in blinder Panik. Niemand war mehr da, der sie antrieb. Und weil Alis liebevolle Hand fehlte, verloren sie auch den Rest von Mut, zumal sie sahen, daß sie nicht mehr die geringste Chance hatten. Sie wollten jetzt nur noch weg, verschwinden, um sich von den Christenhunden nicht ebenfalls in Stücke schießen zu lassen.
„Die hauen ab!“ brüllte Matt Davies begeistert. „Die verschwinden tatsächlich!“
„Ja, die hauen ab“, sagte auch Hasard verwundert. „Aber nicht mit der Feluke, sie lassen das Beiboot zu Wasser. Nehmt das große Segel weg, damit wir nicht soviel Fahrt laufen.“
Mit der Feluke konnten sie nicht mehr weg, denn das bißchen Tuch, das die Masten noch trugen, reichte zur Flucht nicht mehr. Also setzten sich die Piraten mit dem Beiboot ab.
Ein Trick? überlegte Hasard. Zuzutrauen war diesen Schnapphähnen alles, und so beobachtete er weiter.
Er konnte nicht alles genau erkennen, denn das Boot wurde auf der anderen Seite abgefiert. Aber er sah, daß sie Uluch Ali aufhoben und ebenfalls in das Boot verluden.
Ein Musketenschuß krachte. Dan hatte gefeuert, aber diesmal über die Köpfe der Halunken, um sie ein wenig anzutreiben. Drüben dachte keiner mehr an Gegenwehr, sie suchten ihr Heil nur noch in der Flucht.
Erstaunlich schnell löste sich das Beiboot und segelte davon. Die Feluke überließen sie ihrem Schicksal. Aber sie hatten Uluch Ali an Bord, wie Hasard durch den Kieker feststellen konnte. Folglich war er auch nicht tot, sondern nur schwer verletzt, denn einen Toten hätten sie ganz sicher nicht mitgenommen.
„Runter mit dem ganzen Zeug“, sagte Hasard. Sinnend sah er dem Beiboot nach, das jetzt auf südlichem Kurs verschwand.
Die Segel wurden aufgepackt. Hasards Feluke trieb ganz langsam auf die andere zu.
„Vorsicht“, warnte Dan, „das kann eine Falle sein. Wir sollten lieber noch etwas abwarten. Vielleicht haben die Halunken Lunten zur Pulverkammer gelegt, und in ein paar Minuten geht der Eimer mit einem Donnerschlag in die Luft.“
„Du hast recht“, sagte der Seewolf. „Ich hätte genauso gehandelt. Also warten wir noch ein Weilchen ab.“
Aber auch nach eine Viertelstunde zeigte sich niemand dort drüben, und ebensowenig erfolgte eine Explosion. Piraten hatten sich dort drüben aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr versteckt. So gingen sie nach einigen weiteren Minuten längsseits, vertäuten die beiden Schiffe miteinander und durchstöberten die Piraten-Feluke Uluch Alis.
„Ein schönes, ehrliches Schiff“, meinte Shane. „Das ist gutes hartes Holz, stabil, seetüchtig. Und der Kahn suppt auch nicht.“
Niemand befand sich an Bord, nicht einmal ein Toter, denn auch die hatten die Piraten gleich außenbords befördert.
Auf den Planken qualmte es noch ein wenig, dort, wo die brennenden Segelfetzen hingeflogen waren.
„Das könnt ihr beide gleich löschen“, sagte Hasard zu seinen Söhnen, die sich Pützen schnappten und die glimmenden Fetzen mit Wasser übergossen.
Einen Raum nach dem anderen sahen sie sich an.
„Da haben wir ja alles, was wir brauchen.“ Matt Davies zeigte mit der Hakenprothese auf die gefüllten Schapps und in die Vorratskammer. „Sogar in Öl eingelegte Oliven.“
Währenddessen untersuchte Big Old Shane das Holz des Schiffes. Er fand nichts daran auszusetzen und sparte nicht mit Lob.
Jetzt hatten sie eine fast nagelneue Feluke, gegen die ihre ein löchriger Sarg war. Der Tausch, wie Hasard es bezeichnete, gefiel ihnen allen, und noch mehr gefiel ihnen, daß sie es dem alten Piratenknochen Uluch Ali noch einmal kräftig gezeigt hatten. Der war jetzt nur noch ein winziger dunkler Punkt auf den Wellen und bewegte sich weiter südwärts.
Langsam trieben beide Feluken durch das Wasser. Ihre Bordwände rieben leicht aneinander.
Die Zwillinge hatten den Qualm erstickt, jetzt rissen sie die restlichen Fetzen von den Ruten. Gary Andrews und Batuti stiegen schon auf die alte Feluke hinüber und bargen die Segel, um sie drüben wieder anzuschlagen.
Die Feluke des Piraten erwies sich als gut ausgerüstet, viel besser als die eigene. Sie hatten zwei Drehbassen an Bord, weitere Waffen fanden sich in der kleinen Pulverkammer, und wenn sie ihre dazu rechneten, ergab sich ein ganz beachtliches Arsenal.
Auch für Lebensmittel und Vorräte war bestens gesorgt.
„Was einem das Schicksal doch so alles beschert“, murmelte Hasard augenzwinkernd. „Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich einmal die Feluke dieses alten Hundesohns schnappen würde. Aber mich wundert, daß dieser Kerl das Gemetzel damals überlebt hat und ausgerechnet jetzt gerade bei uns auftaucht.“
Shane kratzte sich den grauen Bart und überlegte.
„Ja, ein merkwürdiger Zufall ist das“, sagte er nachdenklich, denn die wahren Zusammenhänge ahnte ja keiner von ihnen. Und niemand wußte etwas von Ben Brightons erfolgreicher Schatzhebung, die der Anlaß zu Alis wilder Suche war.
„Ich weiß noch, als er über Bord ging“, sinnierte Hasard weiter. „Da war der Kerl so zerschlagen und so schwer verletzt, daß ich für sein Leben keinen lausigen Copper gesetzt hätte.“
Uluch Ali ging ihm nicht aus dem Sinn. Das geheimnisvolle Auftauchen dieses Mannes beschäftigte ihn mehr, als er sich selbst eingestand. Aber es war keine Verwechslung, und Ali hatte auch keinen Bruder, der ihm verblüffend ähnlich sah, da war jeder Zweifel ausgeräumt.
„Ob er jetzt tot ist?“ fragte Shane. „Dan hat ihn so getroffen, daß er gleich umfiel.“
„Auch darauf weiß ich keine Antwort, Shane“, sagte Hasard grübelnd. „Ich gehe nur davon aus, daß sie seine Leiche ganz sicher nicht mitgenommen hätten. Folglich steckte noch ein Funken Leben in ihm. Mir sah das eher nach einem Streifschuß aus, nach einer bösen Kopfwunde. Na egal, wir haben sein Schiff, und wir haben keine Verluste erlitten, und das ist die Hauptsache.“
„Dank deiner einmaligen Künste im Segeln“, setzte Shane hinzu, doch Hasard schüttelte nur den Kopf.
„Jeder hatte seinen Anteil daran. Du und Batuti, Gary, Matt, Dan und meine Söhne. Wir haben zusammen gesiegt, ohne dieses Zusammenspiel wäre das nicht möglich gewesen.“
Er drehte sich um und ging zu der „alten“ Feluke hinüber. Am liebsten hätte er sie dem Teppichhändler jetzt um die Ohren geschlagen. Sollte der suppende Kahn zum Teufel gehen, sie brauchten jedenfalls nicht mehr ständig zu pumpen und konnten sich auf ein paar geruhsame Tage vorbereiten, so nahm Hasard jedenfalls an.
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